Die Sehnsucht nach echtem Essen wecken

Lebenslinie im Gespräch mit Starköchin Sarah Wiener über Sinnlichkeit, Wahrhaftigkeit und Nachhaltigkeit beim Essen

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Um wieder mehr Bewusstsein nach echtem, ursprünglichem Essen zu wecken, hat Sarah Wiener eine Stiftung gegründet, um pädagogische Fachkräfte für praktische Ernährungsbildung in Schulen und Kitas kostenfrei auszubilden. Die bundesweite Ernährungsinitiative hat das Ziel in den nächsten Jahren, eine Million Kinder zu erreichen (www.sw-stiftung.de). Foto: Christian Kaufmann

Sarah Wiener ist nicht nur Fernsehköchin und Buchautorin, sie ist auch eine engagierte Frau in Sachen Umwelt und Tierhaltung. Sie rebelliert gegen das Töten männlicher Küken aus rein wirtschaftlichen Aspekten und spricht sich vehement gegen genmanipulierte Pflanzen aus.

Zudem ist sie Mitglied der “Naturallianz”, die sich für den Erhalt biologischer Vielfalt einsetzt. „Essen“ ist ihr Geschäft, aber auch ihr Anliegen und ihre Leidenschaft – vor allem echtes, ursprüngliches Essen muss es sein, dann ist alles gut!

Lebenslinie (LL): Welche Rolle spielt Achtsamkeit für Sie – beim Kochen, Essen und Genießen?
Sarah Wiener (SW):
„Achtsamkeit bedeutet auf den eigenen Körper hören und zu verstehen, was er braucht. Wenn wir nicht genießen, dann geht uns das Menschliche verloren. Essen ist Genuss und lehrt uns den achtsamen Umgang miteinander.“

LL: Ein Lebensmittelskandal jagt den anderen, bei welchen Lebensmitteln kann man sich noch in Sicherheit wiegen oder gibt es diese gar nicht mehr?
SW:
„Wenn Bio betrügt wird‘s konventionell, wenn konventionell betrügt wird’s kriminell. Ich plädiere dafür beim Einkaufen eine gute Nachbarin zu sein, das heißt beim Bauern nebenan, beim Markt um die Ecke oder im Bioladen einzukaufen. Nur so kann man sicher sein, dass man weiß, wo die Zutaten herkommen. Ein paar grundlegende Regeln: Kaufen Sie nichts, was Ihre Großmutter nicht als Essen erkannt hätte. Machen Sie mit ihrem Einkaufskorb Politik – für Böden, Umwelt und Tiere.“

LL: Was bedeutet für Sie „nachhaltig“ essen?
SW:
Vernünftig und sinnvoll essen und genießen.

LL: Sie möchten die Sehnsucht nach dem „Richtigen“ wecken – was bedeutet das?
SW:
„Wir wissen heutzutage gar nicht mehr was richtiges Essen ist, denn viele von uns haben nie ursprüngliche, selbst gepflanzte, mit Liebe zubereitete Nahrungsmittel gegessen. Wenn man ein Kartoffelpüree aus der Tüte gewohnt ist, dann weiß man gar nicht, wie toll selbstgestampfter Püree aus Pellkartoffeln schmeckt, von Kartoffeln, die noch Erde an der Schale hatten. Vielen in meinem Alter ist das noch ein Begriff, aber die Generation, die nach uns groß wird, kennt dies zum großen Teil gar nicht.“

LL: Geht gesunde Küche auch als Vollzeitberufstätiger?
SW:
„Kaum ein Elternteil hat noch Geduld und Liebe, sich zwei, drei Stunden in die Küche zu stellen, um ein köstliches, duftendes Mahl zu zaubern. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass die Gesellschaft dies quasi auch verunmöglicht mit Arbeitszeiten, die wenig Raum zum Selberkochen lassen. Ich bin fest davon überzeugt, dass es geht. Nicht jede frische, vielfältige Mahlzeit ist zu aufwendig für den Feierabend. Und wenn mal gar keine Zeit ist, esse ich am liebsten ein gutes Brot mit Käse oder einem leckeren Aufstrich und einen kleinen Salat.“

LL: Sie schreiben in Ihrem Buch „der Wert der Lebensmittel verfällt“ – wie ist das gemeint?
SW:
„Industrielle Lebensmittelproduktion entfernt uns von der Landwirtschaft, von den Menschen, die die Lebensmittel mit ihren Händen herstellen, die gärtnern und ernten. Würden wir den ganzen Prozess mitbekommen, oder sogar daran teilhaben, würden wir nicht so viele dieser Lebensmittel verschwenden. Auch deswegen sind Lebensmittel uns nichts mehr wert und wir sind nur noch bereit maximal den Discounterpreis zu zahlen. Daher verfällt der monetäre aber auch der emotionale Wert.“

Sarah Wiener: Zukunftsmenü. Was ist uns unser Essen wert?, Überarbeitete Version Goldmann Verlag, München 2017, ISBN 978-3-442-17685-4, Preis: 13 Euro,
E-Book: ISBN 978-3-641-21757-0, Preis: 9.99 Euro,
www.randomhouse.de

LL: Wir leben in einer Überflussgesellschaft, wo jeder zu jeder Zeit alles haben kann, wenn er will. Dennoch nehmen die Zivilisationskrankheiten, Unverträglichkeiten und Allergien immer mehr zu – was zeichnet Ihrer Meinung dafür verantwortlich? Warum vertragen wir unsere Nahrung nicht mehr?
SW:
„Es gibt viele Faktoren, die die Unverträglichkeiten beeinflussen. Es gibt spannende Forschung zu dem Thema Mikrobiome und Bakterien im Darm, die uns etwas darüber sagen können, warum Allergien und andere Zivilisationskrankheiten ansteigen. Ein Grund ist zum Beispiel, dass alle unsere Lebensmittel unter extrem hygienischen Bedingungen hergestellt werden. Karotten haben ganz andere Eigenschaften und Nährstoffe, wenn sie im Wind und unter der Sonne draußen gewachsen sind, und nicht im Gewächshaus. Auch nehmen wir Pestizide und Geschmackverstärker mit unserer Nahrung auf, die nicht förderlich für unsere Darmflora sind. Wir benötigen ursprüngliche Lebensmittel, aber auch mal Fermentiertes und Bitterstoffe. All das sparen wir uns heutzutage und essen lieber den fertigen, süßen Joghurt aus dem Regal, als dass wir Naturjoghurt mit frischen Früchten selber zusammenrühren.“

LL: Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich nicht streiten, dennoch lassen wir zu, dass der Geschmackssinn permanent beeinflusst wird – wie und warum funktioniert das?
SW:
„Unsere Geschmacksknospen werden im Kindesalter geprägt. Und dann durch Nachahmen der Essenspraktiken der Menschen im Umfeld. Je älter wir werden, durch Medien und Werbung, die sich nur die Lebensmittelindustrie leistet, sind wir ständigen Versuchungen ausgesetzt. Eine Besinnung auf das Ursprüngliche wird immer schwerer.“

LL: Was macht Essen zum Genuss?
SW:
„Das ist eine schwierige Frage. Das ist für jeden anders, aber bei mir hat es mit echten, ursprünglichen Zutaten zu tun, mit gemeinsamem Zubereiten und gemeinsamem Essen.“

www.sarahwiener.de

Das Interview mit der österreichischen Starköchin und Autorin Sarah Wiener führte Lebenslinie-Chefredakteurin Susanna Khoury.

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