Zurück ins Mittelalter?

Deutsche Infektiologen sorgen sich, dass die moderne Medizin das Wettrüsten gegen „Superkeime“ verliert und fordern eine Installierung von ABS (Antibiotic Stewardship)

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Das Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie Prof. Dr. Kern (Mitte) plädiert für einen gezielteren, kürzeren und sinnvolleren Einsatz von Antibiotika. „Wenn die Antibiotika- Resistenzen in dem Maße wie bisher zunehmen, wird die Zahl der Todesfälle durch Infektionskomplikationen nach OPs alles Bisherige überstrahlen – im negativen Sinn, sagt Krankenhaushygieniker Prof. Dr. Lemmen. (2. v.l. ) „... wir versuchen bereits ABS voranzutreiben und umzusetzen – in verschiedenen Disziplinen wie Human- und Tiermedizin und über die Grenzen Deutschlands hinaus“, sagt Prof. Dr. Hartwig Klinker (rechts), Leiter der Infektiologie am Uniklinikum Würzburg. Mit auf dem Podium Prof. Stich (links), der über Flüchtlingsmedizin im „Würzburger Modell“ berichtet. Fotos: Susanna Khoury

Das Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie Prof. Dr. Kern (Mitte) plädiert für einen gezielteren, kürzeren und sinnvolleren Einsatz von Antibiotika. „Wenn die Antibiotika-Resistenzen in dem Maße wie bisher zunehmen, wird die Zahl der Todesfälle durch Infektionskomplikationen nach OPs alles Bisherige überstrahlen – im negativen Sinn, sagt Krankenhaushygieniker Prof. Dr. Lemmen. (2. v.l. ) „… wir versuchen bereits ABS voranzutreiben und umzusetzen – in verschiedenen Disziplinen wie Human- und Tiermedizin und über die Grenzen Deutschlands hinaus“, sagt Prof. Dr. Hartwig Klinker (rechts), Leiter der Infektiologie am Uniklinikum Würzburg. Mit auf dem Podium Prof. Stich (links), der über Flüchtlingsmedizin im „Würzburger Modell“ berichtet. Fotos: Susanna Khoury

„Früher haben 95 Prozent der Antibiotika gewirkt, heute tun es nur noch 60 bis 80 Prozent“, betont Professor Dr. Winfried V. Kern, Vorstandmitglied der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie beim größten deutschsprachigen Kongress für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin, der kürzlich in Würzburg stattfand.

Die schnellere Ausbreitung durch übertragbare DNA einiger „Superkeime“ (ESBL-Erreger) sei daran schuld, aber auch andere „selbstgemachte“ Resistenzen gegen das einstige Wundermittel bakterieller Infektionen, das Antibiotikum. „Bei schwerkranken Patienten ‚basteln‘ wir heute schon am Krankenbett, um Genesung hinzukriegen“, so der Leitende Arzt am Zentrum für Infektiologie und Reisemedizin der Uniklinik Freiburg.

„Die Gesamtsituation ist kritisch!“ Will heißen: Infektionen beispielsweise nach einer Herzoperation oder Knochenmarktransplantation können wieder lebensgefährlich werden. Nach dem Motto: OP gelungen. Patient tot!

Die ESBL-Erreger, die selbst gegen das Notfall-Antibiotikum Colistin resistent sind, eines der Präparate, das immer dann eingesetzt wird, wenn nichts anderes mehr hilft. Sie katapultieren die Medizin des 21. Jahrhunderts zurück ins Mittelalter – plakativ gesprochen. Auch ist sich der Infektiologe Prof. Kern sicher: Immer neue Antibiotika würden an der Gefährdungslage nichts ändern.

Es sei ein Wettrüsten, das die Medizin verlieren könnte, wenn sie nicht auch andere Wege beschreite, betont auch Professor Dr. Hartwig Klinker, Kongresspräsident und Leiter der Infektiologie am Uniklinikum Würzburg.

Einer der Wege davon soll eine Fortbildungsinitiative von 500 Medizinern bis Ende 2017 sein, die ABS (Antibiotic Stewardship) in deutsche Krankenhäuser trägt. Bei ABS geht es darum, durch verantwortlichen Einsatz von Antibiotika die Resistenzen zurückzufahren. ABS, das in Ländern wie Holland, Belgien, den USA, Frankreich oder Australien in Kliniken seit vielen Jahren Pflichtprogramm ist, werde bislang in Deutschland vom Gesetzgeber nur empfohlen, so Kern.

Der Vormarsch multiresistenter Erreger ist der zu hohen, zu langen und oft unnötigen Gabe von Antibiotika vor allem im ambulanten Bereich geschuldet und nicht zuletzt dem Antibiotikaeinsatz in der Tiermast (vor allem bei Schweinen und bei Geflügel).

Den letzten beißen bekanntlich die Hunde… Erst in der letzten Instanz trifft es den stationären Bereich, wo die Übertragung „mitgebrachter“ bakterieller Resistenzen (rund 80 Prozent der Keime werden eingeschleppt, nicht im Krankenhaus selbst erworben) von Patient zu Patient verhindert werden muss.

Die sicherste und erfolgversprechendste Maßnahme, um eine Verschleppung von Erregern zu vermeiden, sei die Händedesinfektion des Krankenhauspersonals, besteht Prof. Dr. Sebastian W. Lemmen, Leiter des Bereichs Krankenhaushygiene und Infektiologie an der Uniklinik RWTH Aachen, auf die simple und doch so wirksame Maßnahme.

Warum diese dennoch nicht greife, sei seiner Meinung nach der Tatsache geschuldet, dass sie bei 70 Prozent der Patientenkontakte nicht durchgeführt werde – nicht zuletzt wegen der Ökonomisierung des Gesundheitssektors.

In Klartext gesprochen: Zu wenig Pflegepersonal, das für zu viele Patienten zuständig ist und Ärzte mit durchschnittlichen acht Minuten Behandlungszeit pro Patient, haben nur bei drei von zehn Patienten Zeit, sich die Hände zu waschen.

Neben der regelmäßigen Händedesinfektion führt Prof. Lemmen die tägliche Ganzkörperwaschung von Risikopatienten mit Antiseptika als zweite wichtige Maßnahme gegen die Transmission von Erregern von Patient A zu Patient B an. Auch halte er allgemeine MRE-Screenings bei der Aufnahme, wie sie in den Niederlanden in den Krankenhäusern praktiziert werden, für eine sinnvolle Maßnahme.

„Man musss den Keim finden, bevor er dem Patienten schadet“, so Lemmen. Also, Keime eruieren, isolieren und eliminieren! Wäre es nicht so traurig, ist es fast schon wieder komisch, dass sich unser aufgeklärtes, hochtechnisiertes Zeitalter durch den bewussten Verzicht auf simple Hygienemaßnahmen den Tod durch Keime wieder ins Haus holt.

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Fehlende Zeit kann tödlich sein
Mehr als die Hälfte ambulantenr Pflegekräfte (57 Prozent) pflegt Patienten, die mit einem multiresistenten Keim infiziert sind. Das geht aus einer Studie der Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) hervor. Pro Jahr kommen 95 Prozent der Pflegekräfte mit dem Problemkeim Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus (MRSA) in Kontakt, der bei Risikopatienten nach einer OP oder generell bei geschwächtem Immunsystem lebensbedrohlich werden kann. Der sicherste Schutz gegen multiresistente Keime und Keime im Allgemeinen ist Hygiene. Warum diese nicht greift (trotz Aufklärung und klarer Umsetzungsrichtlinien), liegt an der Tatsache, dass vielfach gesetzliche und fachliche Standards nicht eingehalten werden, so die Meinung 400 Qualitäts- und Hygienebeauftragter von Pflegeeinrichtungen.
76 Prozent der Befragten konstatieren fehlendes Wissen bei den Angehörigen als Hauptgrund für Hygienefehler, bisweilen auch mangelnde Sorgfalt der Laien bei der Pflege. Nachholbedarf gebe es aber auch bei den professionellen Pflegekräften: Hier ist es weniger das fehlende Wissen (11 Prozent) als die fehlende Zeit (38 Prozent) und dadurch oft die fehlende Sorgfalt (24 Prozent), die Keimen die Ausbreitung ermöglicht. Diese Tatsache ist wiederum der Ökonomisierung des Sektors „Pflege“ sowohl im ambulanten Bereich als auch in Krankenhäusern geschuldet, die diese giftigen selbstzerstörerischen Blüten treibt. Susanna Khoury – Quelle: Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP)

www.zqp.de

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