Was muss denn noch geschehen?

Oberpflegamtsdirektor Walter Herberth über die Pflegekrise

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Juli 2022: Die Medien überschlagen sich mit Berichten über streikende Flughafenmitarbeiter:innen, entnervt wartende Passagiere und containerweise nicht transportierte Koffer. Anfang August meldet die Gewerkschaft Verdi, dass bei den Tarifverhandlungen mit der Lufthansa für das Bodenpersonal eine Gehaltserhöhung zwischen 377 und 498 Euro pro Monat erzielt wurde. Schön für die Flughafenmitarbeiter:innen und ein Schlag ins Gesicht für die Pflegekräfte, die im dritten Jahr der Pandemie auf dem Zahnfleisch gehen. „Die Situation in Krankenhäusern und Pflegeheimen ist aktuell, von der Personaldecke her, wie zu Hochzeiten der Pandemie: Elektive OPs müssen verschoben, Stationen geschlossen werden und Einspringen aus dem ̦Frei̒ ist die Regel, nicht die Ausnahme. Aber Pflegekräfte streiken nicht, weil sie wissen, dass die ihnen anvertrauten Menschen dann zu Schaden kämen“, sagt der Oberpflegamtsdirektor der Stiftung Juliusspital Walter Herberth. „Einige Pflegekräfte haben ihre Arbeitszeiten reduziert, damit sie der Belastung standhalten können, andere haben sich komplett aus dem Beruf, der einst ihre Berufung war, verabschiedet.“

Etwa 300 Pflegeplätze in Würzburger Heimen können aufgrund zunehmenden Personalmangels derzeit nicht belegt werden. Wie kürzlich auf einer Pressekonferenz im Rathaus verkündet wurde, spielt die stationäre Geriatrie der AWO mit dem Gedanken zu schließen. Die des Bürgerspitals hat vor einem Jahr bereits dicht gemacht. Das wäre dann das Aus für stationäre geriatrische Reha in Würzburg. Der Grund: Personalmangel und „ein jährliches Kostendefizit zwischen 690.000 (AWO) und einer Million (Bürgerspital)“, sagen der Kaufmännische Direktor der Geriatrischen Rehaklinik der AW0, Andreas Zenker, und die Stiftungsdirektorin des Bürgerspitals, Anette Noffz. Was muss denn noch geschehen?

Wenn man ehrlich ist, die Pflege war schon vor „Corona“ chronisch unterbesetzt und ständig am Einspringen aus dem „Frei“ … Wie in vielen anderen Bereichen hat auch hier Corona als Brennglas fungiert und vor Augen geführt, wer wirklich systemrelevant ist. Es gab Applaus. Der ist verhallt. Und einen Bonus. Der ist aufgebraucht. „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und zu hoffen, dass sich etwas ändert“, wusste schon Albert Einstein. Und daher gingen die Stiftung Juliusspital, die Bürgerspitalstiftung und die Blindeninstitutsstiftung zusammen mit 22 weiteren Organisationen aus Würzburg im Aktionsbündnis „Dienst-Tag für Menschen“ ein Jahr lang „zur Vermeidung einer humanitären Katastrophe“, wie es in ihrem Positionspapier für bessere Rahmenbedingungen in der Pflege heißt, auf die Straße. Und das war noch lange nicht alles: Das „Netzwerk Pflegeheime in Stadt und Landkreis Würzburg“ stieß ein Schreiben an den bayerischen Gesundheitsminister Klaus Holetschek an, das Bündnis „Dienst-Tag für Menschen“ unmittelbar nach der Bundestagswahl im vergangenen Jahr einen Brief an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. Mit vielen weiteren Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft, regional wie überregional, sei man stetig im Gespräch, so Walter Herberth. Auch tausche man sich zwischen den Kliniken regelmäßig aus.

Das Ergebnis aller Bemühungen unterm Strich: nicht nur mangelhaft, sondern ungenügend! Was muss denn noch geschehen? Eine aktuelle Erhebung¹ aus dem Mai dieses Jahres belegt: 300.000 bis 600.000 Vollzeit-Pflegekräfte stünden in Deutschland in Form von Berufsrückkehrer:innen zur Verfügung, wenn sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege deutlich verbessern würden. Warum holen die politisch Verantwortlichen hierzulande diese Menschen nicht mit einem eindeutigen Signal zurück? Auf was warten sie? Die Antworten in den offiziellen Briefen, die Walter Herberth und seine Kolleg:innen erreichen, seien immer ähnlich gestrickt: Man habe die Lage auf dem Schirm und werde zu gegebener Zeit darauf reagieren. Leider stehen im Moment andere Prioritäten auf der Agenda … Die Pflege habe das Gefühl, dass immer anderes wichtiger sei, als ihre Belange, so Herberth. Nicht zuletzt die fehlende Wertschätzung der Pflege seitens der Politik habe die aktuell herrschende Pflegekrise verschärft. Das Verwalten des Status Quo in Bezug auf die Rahmenbedingungen in der Pflege treibe inzwischen so bizarre Blüten, dass private Leiharbeitsfirmen für die Vermittlung von Pflegekräften an Kliniken und Heime bis zu 15.000 Euro pro Fachkraft forderten, berichtet Herberth. „Die Pflegekräfte arbeiten dann nicht selten bei ihrem früheren Arbeitgeber, nur zu Wunscharbeitszeiten bei besserer Bezahlung und ‚vergiftetem‘ Betriebsklima.“ Was muss denn noch geschehen?

Quelle:
¹Jennie Auffenberg, Denise Becka, Michaela Evans, Nico Kokott, Sergej Schleicher, Esther Braun: „Ich pflege wieder, wenn …“ – Potenzialanalyse zur Berufsrückkehr und Arbeitszeitaufstockung von Pflegefachkräften, Mai 2022, www.arbeitnehmerkammer.de/fileadmin/user_upload/Downloads/Politik/Rente_Gesundheit_Pflege/Bundesweite_Studie_Ich_pflege_wieder_wenn_Kurzfassung.pdf

Das Interview mit dem Oberpflegamtsdirektor der Stiftung Juliusspital führte Lebenslinie-Chefredakteurin Susanna Khoury.

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