Von Impfgegner:innen & autonomen Patient:innen

100 Jahre Würzburger Institut für Medizingeschichte

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Sie erschließen frühneuzeitliche Ärzt:innenbriefe, erforschen die anatomische Lehre im Padua des 16. Jahrhunderts oder untersuchen, wie die gelehrte Medizin über vier Jahrhunderte auf beleibte Menschen blickte: Das wissenschaftliche Team am Institut für Geschichte der Medizin an der Julius-Maximilians-Universität (JMU) in Würzburg um dessen Leiter Prof. Michael Stolberg haben sich auf die Medizingeschichte der frühen Neuzeit spezialisiert. 2021 feierte das Institut sein 100-jähriges Bestehen. Eine Jubiläumsfeier musste pandemiebedingt entfallen, sie soll nun am 21. Juli um 19 Uhr im Toscanasaal der Würzburger Residenz nachgeholt werden. Institutsbegründer war 1921 der Hygieniker und Seuchenforscher Dr. Georg Sticker.

Nach Leipzig handelt es sich um das zweitälteste medizinhistorische Institut in Deutschland. Es verfügt über umfangreiche medizinhistorische Sammlungen, darunter zahlreiche Instrumente des 19. Jahrhunderts und Wachsmoulagen. In die Schlagzeilen geriet das Institut 2004 durch Michael Stolbergs direkten Vorgänger Gundolf Keil: Der Verdacht kam auf, dass der Medizinhistoriker und Altgermanist Zahlungen für die Ausgabe von Dissertationen und wesentliche Hilfeleistungen angenommen habe. Zunächst ging die Universität den Vorwürfen nach, dann wurde der Vorgang an die Staatsanwaltschaft übergeben. Keil wurde wegen Vorteilsnahme zu 90 Tagessätzen verurteilt und erhielt 2009 einen Strafbefehl in Höhe von 14.400 Euro. In zwei Fällen erkannte die Universität drei Jahre später den Doktorgrad wieder ab. Heute arbeiten am Institut neben Medizinhistoriker Dr. Michael Stolberg mit Dr. Sabine Schlegelmilch und Dr. Alexander Pyrges zwei fest angestellte wissenschaftliche Mitabreiter:innen, mehrere wissenschaftliche Mitabreiter:innen in Drittmittelprojekten kommen hinzu.

In seinen frühen Forscherjahren hatte sich Stolberg intensiv mit der Seuchen- und Umweltgeschichte des 19. Jahrhunderts beschäftigt – und sieht hier durchaus Parallelen zur Gegenwart: Als Bayern im August 1807 als erstes Land weltweit eine Impfpflicht gegen Pocken einführte, formierten sich auch damals sehr schnell Impfgegner:innen. „Hätte man zurückgeschaut, hätte man mit Widerständen gegen die Coronaimpfung rechnen können“, sagt der 64-Jährige. Seit Ende der 1990er-Jahre beschäftigt er sich vor allem mit der Medizin-, Körper- und Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit sowie seit 2005 mit der Geschichte von Palliativmedizin und Medizinischer Ethik. Das bislang längste und größte Akademieprojekt am Institut läuft nunmehr über 15 Jahre.

Das Team um Stolberg erschließt dabei zahlreiche Briefe frühneuzeitlicher Ärzt:innen aus dem deutschsprachigen Raum. In eine Datenbank aufgenommen sind inzwischen rund 155.000, erschlossen um die 60.000. Bleibt die Frage: Was bringt dem Mediziner der Blick in die Geschichte? „Weiß man nicht, wo man herkommt, weiß man nicht, wer man ist“, sagt Prof. Stolberg. So reicht zum Beispiel die Historie der Sprechstundenpraxis weit zurück. Auch im 16. Jahrhundert traten Patient:innen und ihre Angehörigen sehr selbstbewusst an Ärzt:innen heran und forderten Aufklärung über Krankheiten ein. Der Begriff „autonome Patient:innen“ ist also auch nicht so brandneu.

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