Vermeiden ist besser als reparieren

Von der Krampfader bis zum Schlaganfall – Im Gespräch mit Dr. Gerhard Schüder, Chefarzt der Rotkreuzklinik in Wertheim

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Dr. Schüder leitet seit 17 Jahren die Chirurgie der Rotkreuzklinik in Wertheim. Foto: Susanna Khoury

Dr. Schüder leitet seit 17 Jahren die Chirurgie der Rotkreuzklinik
in Wertheim. Foto: Susanna Khoury

Ich sitze am Schreibtisch und warte auf meinen Interviewpartner zum Thema „Gefäßchirurgie“, Dr. Gerhard Schüder, Chefarzt der Rotkreuzklinik in Wertheim.

Wie die meisten unserer Leser habe auch ich nur rudimentäres Wissen über das, was sich in unseren Venen und Arterien so abspielt.

Ich kann die Krampfader dem venösen System zuordnen und den Schlaganfall dem Arteriellen, aber warum sich Blutgerinnsel bilden, wie man diese vermeidet, geschweige denn deren Auswirkungen repariert respektive operiert, geht weit über mein Vorstellungsvermögen hinaus.

Pünktlich wie verabredet, klopft es an meine Tür und herein kommt ein sympathischer Herr mit offenem Blick, unglaubliche Ruhe und Sicherheit ausstrahlend, die mich ihm sofort vertrauen lässt (was bei mir eher ungewöhnlich ist).

In der Hand hat er einen dunkelblauen Stoffbeutel mit Bypässen aller Art, Stents, OP-Fäden, Kathedern, einer Pumpe und Ballons, die in den Gefäßen aufgeblasen werden, sowie Plaques (Kalkablagerungen) aus einer Halsschlagader.

Als alles auf meinem Schreibtisch ausgebreitet war und der Gefäßspezialist das Erzählen begann, lief wie im Film eine Bypass-Operation vor meinen Augen ab und am Ende des fast zweistündigen Interviews hatte ich das Gefühl, wenn mir jetzt noch schnell Jemand den Umgang mit Skalpell, Nadel und Faden erklärt, könnte ich theoretisch einen Bypass verlegen…!

Sofort musste ich an die Worte Albert Einsteins denken, der sagte: „Wenn du es nicht einfach erklären kannst, hast du es nicht gut genug verstanden!“

Dr. Schüder, der seit 17 Jahren die Chirurgie der Einrichtung der Schwesternschaft München des BRKs in Wertheim leitet, kann einfach gut erklären, unglaublich präzise und doch für den Laien verständlich.

Bypässe aller Art, Stents, OP-Fäden, Katheder, eine Pumpe und Ballons, die in den Gefäßen aufgeblasen werden sowie Plaques (Kalk-ablagerungen) aus einer Halsschlagader, all das hatte Dr. Schüder im Gepäck als er der Lebenslinie-Redaktion in Würzburg einen Besuch abstattet. Foto: Susanna Khoury

Bypässe aller Art, Stents, OP-Fäden, Katheder, eine Pumpe und Ballons, die in den Gefäßen aufgeblasen werden sowie Plaques (Kalk-ablagerungen) aus einer Halsschlagader, all das hatte Dr. Schüder im Gepäck
als er der Lebenslinie-Redaktion in Würzburg einen Besuch abstattet. Foto: Susanna Khoury

Für die Gefäßchirurgie habe er sich einst entschieden, weil es ihn fasziniert hat, Menschen den Arm oder das Bein durch seine Arbeit retten zu können oder das Leben!

Die Hälfte der Eingriffe in der Gefäßchirurgie in Wertheim, so Dr. Schüder sind Operationen im Bereich der Halsschlagader, Beckenschlagader oder der Beinstrombahn („Schaufensterkrankheit“).

Bei der andere Hälfte der OPs stehe das venöse System, sprich die Beseitigung von Krampfadern im Fokus.

Ob Schmerzen in der Wade, venöse Ursachen (Krampfadern) haben oder Arterielle (Engstelle durch Kalk an der Gefäßwand) könne auch der Laie diagnostizieren, so Dr. Schüder.

Wenn wir beim Laufen oder Rennen Schmerzen in der Wade haben, sodass wir minutenlang stehen bleiben müssen, behelfsweise vor einem Schaufenster, um nicht komisch im Weg zu stehen (daher der Name „Schaufenster-Krankheit“), dann sei das ein Indiz für eine Engstelle, die den Blutfluss beeinträchtigt (arterielles System).

Nächtlicher Wadenschmerz in Ruheposition, so Schüder, sei im wahrsten Sinne des Wortes anders
gelagert und deute demnach meist eher auf Krampfadern hin (venöses System).

Bis zur Stufe II a (Laufen über 200 Meter ohne Schmerzen, Einteilung nach Fontaine) sind Engstellen in den Arterien noch reversibel, beispielsweise durch Gehtraining über den Schmerzpunkt hinaus.

Ab II b (Laufen unter 200 Metern ohne Schmerzen nicht möglich) sollte eine OP in Erwägung gezogen werden, die durch moderne, sogenannte interventionelle Verfahren relativ einfach den Plaques durch Einführen eines Ballons sprengt und durch Einsetzen eines Stents (Gitterröhrchens) ungehinderten Blutfluss für die Zukunft an dieser Stelle sichert.

Stufe III (Ruheschmerzen durch eine Engstelle) und Stufe IV (Zugrundegehen von Gewebe beispielsweise Zehen-Nekrose) seien absolute OP-Indikationen, betont Gefäßchirurg Dr. Schüder.

In jedem Fall sei es zu verhindern, dass irgendwo eine Engstelle zugeht.

Denn so lange das Gefäß noch nicht ganz zu sei, seien die minimalinvasiven, schonenderen Methoden noch möglich, später ist ein großer Bauchschnitt erforderlich.

Durch regelmäßige Kontrollen mittels Farbultraschall-Untersuchung an der Halsschlagader (Leitader, beispielgebend für die Verkalkung im gesamten Körper) könne genau der Grad der Plaques-Bildung aufgezeigt werden.

„Bis 85 Prozent Verkalkung sei noch keine OP angeraten“, sagt der erfahrene Vollblutmediziner, da Untersuchungen ergeben haben, dass eine Schlaganfallvermeidung durch operative Verfahren erst ab 85 Prozent Plaques effektiv sei.

„Eine Stenose (Engstelle) ist definitiv genetisch bedingt“, sagt Dr. Schüder.

„Es gibt den 85-Jähirgen Opa, der Zeit seines Lebens geraucht hat und nicht die geringsten Ablagerungen in den Gefäßen hat, aber auch den 45-Jährigen Nichtraucher mit Herzinfarkt und völliger Verkalkung!“

Daher sei, bei Vorbelastung in der Familie, eine frühe Kontrolle, die beste Prophylaxe für einen möglichen Schlaganfall, Herzinfarkt oder Nierenversagen (überall an Gefäßgabelungen können Engstellen entstehen).

Das Durchschnittsalter der Patienten in Wertheim, die Stents bekommen, liege zwischen 65 und 75 Jahren. Frauen seien erst ab den Wechseljahren mit dem Problem der Plaque-Bildung behaftet, Männer schon ab dem 30. Lebensjahr.

Nach dem Schutz durch die Hormone holen Frauen anschließend aber überproportional schnell auf, sodass ungefähr gleichviel Patienten beiderlei Geschlechts von Gefäßverengungen betroffen sind.

„Neben der genetischen Veranlagung birgt vor allem das Rauchen ein großes Risiko für die Gefäße“, betont der Chirurg.

„Vermeiden ist immer besser als reparieren“, proklamiert Dr. Schüder mit Herzblut: „Rauchen sollte vermieden werden, Bluthochdruckpatienten und Diabetiker müssen gut eingestellt sein und zu hohe Cholesterinspiegel sollten auf jeden Fall behandelt werden.

Tägliche Bewegung als Gefäßtraining ist für die Beine überlebenswichtig!“

Apropos Beine – auch hier im venösen System könne man einer Blutgerinnsel-Bildung durch einfache Vorsichtsmaßnahmen vorbeugen; beispielsweise bei längeren Busfahren oder Flugzeugreisen viel trinken und jede halbe oder dreiviertel Stunde mal aufstehen und sich die Beine vertreten.

Bei Vorbelastung oder starkem Übergewicht, so Schüder, sei auch das Tragen von Kompressionsstrümpfen
oder eine Heparin-Spitze im Vorfeld der Reise sinnvoll.

Engstellen machten sich hier durch Anschwellen der Beine/Arme und ein Schweregefühl der Extremitäten bemerkbar.

Das Interview ist wie im Flug vergangen. Nun packt Dr. Schüder seine mitgebrachten Utensilien wieder ein und mein Schreibtisch sieht aus wie immer.

Der Chefarzt der Rotkreuzklinik fährt zurück nach Wertheim, wo seine Patienten und Ärzte auf ihn warten und ich verkneife mir die Zigarette, die ich eigentlich jetzt rauchen wollte – meinen Gefäßen zuliebe!

Das Interview mit Chefarzt der Rotkreuzklinik in Wertheim Dr. Gerhard Schüder führte Lebenslinie-Chefredakteurin Susanna Khoury.

Krampfadern entfernt man in Wertheim seit rund vier Jahren nicht mehr über einen Leistenschnitt, sondern über ein Verfahren (Radiofrequenz-Ablation), das ambulant durchgeführt wird.

Hier wird mittels kleiner Punktion einen Katheder bis kurz unterhalb der Leiste einführt, man gibt Strom darauf und „verkocht“ so die Hauptkrampfader.

Die Reste werden dann vom Körper über die nächsten Wochen selbst abgebaut, und der Patient habe ein gleich gutes Ergebnis wie früher bei der stationären OP, bei der die Krampfader herausgerissen wurde.

www.rotkreuzklinik-wertheim.de

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