Stressabbau-Organ: Gebiss

Zahnarzt Dr. Volker M. Panitz über Bruxismus, Ursachen und Therapie sowie die Notwendigkeit des Zähneknirschens

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Schätzungen zufolge knirscht ein Viertel aller Menschen nachts mit den Zähnen. Das wird Schlafbruxismus genannt. Frauen bruxieren häufiger als Männer. Am stärksten betroffen sind Personen zwischen 30 und 45 Jahren¹. Auch tagsüber kann Bruxismus vorkommen (Wachbruxismus). „Zähneknirschen ist eigentlich eine normale physiologische Funktion und keine Krankheit“, so Zahnarzt Dr. Volker Panitz. Es sei – wie das Zähnepressen oder das Anspannen der Kiefer ohne Zahnkontakt – eine wiederholte Aktivität der Kaumuskulatur.

Manche Menschen, so der Zahnmediziner, würden die Zähne gar nicht berühren, bruxier- ten aber dennoch mit der Kaumuskulatur. In den meisten Fällen sei die Ursache des Zähneknirschens nicht eindeutig. „Bei Wachbruxismus wird überwiegend eine psychologische Ursache wie Stress angenommen. Nachts scheint eine Störung von Neurotransmittern im Gehirn eine wichtige Rolle zu spielen“, erklärt der Zahnarzt mit Praxen in Bad Kissingen und Zeil am Main. Es gebe aber auch Fälle, bei denen man die Ursache eines Bruxismus zu kennen glaubt, etwa als Folge von Medikamenteneinnahme oder Drogenkonsum, aber auch Unfälle mit Schädel-Hirn-Verletzungen kämen dafür infrage.

Dr. Panitz ©Romana Kochanowski

Das Knirschen habe eine ambivalente Wirkung auf den Körper. Die Forschung gehe etwa davon aus, dass es helfe, den Säurerückfluss bei Reflux-Erkrankungen zu vermeiden. Auch eine Schlaf-Apnoe soll dadurch positiv beeinflusst werden können. Andererseits nutzten sich durch das Knirschen die Zähne stark ab, Zahnrestaurationen gingen kaputt und es könne zu deutlichen und wiederkehrenden Kopf- und Nackenschmerzen kommen. „Wachbruxismus kann durch Eigenbeobachtung identifiziert werden“, sagt Panitz. „Eine sichere Diagnose beim Nachtbruxismus kann nur in einem Schlaflabor gestellt werden.“

Anhaltspunkte liefere aber das Patientengespräch. Manch einer knirsche nachts so stark, dass die Schlafpartner Mahlgeräusche hören können. Ein schwerer Kopf am Morgen oder das Aufwachen mit fest zusammengepressten Zähnen seien ebenfalls Hinweise. „Wenn die Zähne sehr stark abgerieben sind, dann kann man sicher sein, dass zumindest früher schon einmal Bruxismus vorlag. Ob das aktuell auch so ist, kann man aber nur vermuten“, mahnt der Zahnarzt. Bei der Diagnosestellung lohne sich eine Untersuchung der Kaumuskulatur. Entstehe durch Druck mit den Fingern auf bestimmte Muskelpartien Schmerz, dann könne man vermuten, dass dieser Muskel überlastet ist. Ursache dafür sei meist die Dauerbelastung durch die Anspannung beim Bruxieren. „Stellt der Patient an seinen Zähnen oder an Zahnrestaurationen fest, dass immer wieder Ecken abplatzen oder Füllungen herausbrechen, dann kann man auch ziemlich sicher sein, dass man stark mit den Zähnen knirscht“, meint Dr. Panitz.

Aber was tun? Eine Standard-Therapie gebe es laut Dr. Panitz nicht. Da die Ursachen meist im psychoemotionalen Bereich lägen – dazu gehören Stress im Beruf, aber auch Beziehungsprobleme, Geldsorgen, Sorge um erkrankte Familienmitglieder und vieles andere – müsse die ärztliche Hauptaufgabe darin bestehen, den Patienten und sein Kausystem stabil zu halten, sodass er Strategien entwickeln könne, um adäquat mit seinen Sorgen umzugehen. Dr. Panitz empfiehlt Maßnahmen wie autogenes Training, progressive Muskelentspannung nach Jacobson, Bio-Feedback oder auch eine sportliche Betätigung nach einem harten Berufstag, um das durch den Stress angestiegene Cortisol durch Muskelarbeit zu verbrennen.

Medizinisch könne eine Aufbiss-Schiene helfen, weiteren Abrieb zu stoppen. „Sie kann und soll aber nicht bewirken, dass die Patienten nicht mehr knirschen“, betont der Arzt. Im Gegenteil: „Das Gebiss ist unser Stress-Abbauorgan. Wir müssen knirschen und pressen können, sonst werden wir in anderer Hinsicht krank.“ Wenn das Knirschen bei Stress-Belastung verhindert werde, dann könnten diverse andere körperliche Fehlfunktionen wie chronische Schmerzen, Herzrhythmusstörungen, Verdauungsprobleme und verschiedene andere Erkrankungen entstehen, die durch Fehlregulationen des parasympathischen Nervensystems ausgelöst würden.

Aber was geschieht, wenn die Zähne bereits sehr stark abgerieben sind und der gesamte Zahnschmelz in Mitleidenschaft gezogen wurde? Dann werde es aufwendig und anspruchsvoll: „Dann muss der gesamte Biss rekonstruiert werden. Das bedeutet, dass die abgeriebenen Zahnstrukturen wiederaufgebaut werden müssen.“

 

¹https://www.aok.de/bw-gesundnah/vorsorge-und-gesundheit/zaehneknirschen-stress-als-haeufigste-ursache

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