Pro-Aging statt Anti-Aging

Der Alterssimulationsanzug ermöglicht einen Blick in die Zukunft

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Unsicher setze ich einen Fuß vor den anderen. Meine Arme und Beine sind schwer. Flüssige Bewegungen sind kaum möglich. Auch meine Sicht ist deutlich getrübt. Dunkle Punkte durchkreuzen mein Blickfeld. Die Wahrnehmung mutet an, wie hinter einer milchigen Scheibe. Obendrein ist mein Gehör eingeschränkt. Meine Güte, ich fühle mich ganz schön hilflos. Mein sonst selbstbewusstes Auftreten ist wie weggeweht. Gott sei Dank bin ich in Begleitung. Ohne Hilfe könnte ich so profane Dinge wie eine Straße überqueren oder Münzen aus dem Geldbeutel herausklauben nur schwer bewältigen. Mitten im Hochsommer bin ich am Klinikum Main-Spessart in Lohr, wo im Dezember die neue Geriatrie mit Akutgeriatrie und Geriatrischer Rehabilitation ihren Betrieb aufnimmt, in einen Alterssimulationsanzug geschlüpft. Dieser macht Einschränkungen des Alters erlebbar.

Die Gewichte, Manschetten, Handschuhe und den Gehörschutz kann ich nach 30 Minuten ablegen (ich bin froh darüber). Senior:innen können das nicht. Und genau darum gehe es, erklärt Natalie Preiß, Chefärztin der Geriatrie am Klinikum Main-Spessart (Bild oben dritte von rechts). „Dieser Anzug wird in vielen unterschiedlichen Bereichen eingesetzt“, sagt die Medizinerin. Schüler:innen, Auszubildende, Menschen in der Berufsfindung – sie alle können so „Alter“ hautnah erleben. Und sich vor allem hineinfühlen: „Alter bedeutet oft auch körperliche Einschränkungen.“ Es gehe darum, Empathie und Verständnis für alte Menschen zu entwickeln. Auch ich habe während der Simulation Überraschungen erlebt. Obschon völlig klar im Kopf, fühlte ich mich beim Gang auf dem Gehsteig wie betrunken. Ich schwankte und hatte das dringende Bedürfnis nach sicherem Halt. Über Treppen reden wir erst gar nicht. Fühlt sich das wirklich so an, alt zu sein? Der Anzug machte mich nachdenklich … Natalie Preiß und ihre Kolleg:innen haben den Alterssimulationsanzug der Regierung von Unterfranken bereits im eigenen Haus eingesetzt. „Alle waren begeistert, weil sie für sich viel ableiten konnten – und das nicht nur für die Arbeit in der Geriatrie“, sagt sie. Alter, das wird im Gespräch mit der Ärztin deutlich, ist kein Makel, sondern das natürliche Fortschreiten des Lebens.

„Wir wollen alle alt werden, aber alt sein wollen wir nicht“, sagt sie. „Dabei hat Altwerden auch viel Positives“, verweist sie unter anderem auf die gesammelte Lebenserfahrung oder zunehmende Gelassenheit in bestimmten Situationen. „In punkto Gesundheit ermöglicht die Medizin heute vieles“, stellt sie heraus. „Die behinderungsfreie Lebenserwartung in Deutschland ist länger geworden. Senior:innen können also viel Lebensqualität erfahren, dabei aktiv und frei sein. So eindeutig wie hierzulande ist die Entwicklung jedoch nicht in allen Industriestaaten.“ Insofern könnte dieser Simulationsanzug dazu beitragen, Altersdiskriminierung ­abzubauen, schießt es mir sofort durch den Kopf. Wie oft stehen wir ungeduldig an der Kasse und warten darauf, dass Senior:innen vor uns „endlich“ bezahlen. Oder wir ärgern uns, dass ein älterer Mensch plötzlich in kleinen langsamen Schritten die Straße überquert. Das neue Credo muss lauten: „Senior:innen können vieles vielleicht nicht mehr so gut wie jüngere Menschen, aber mit etwas Empathie, Geduld und Verständnis kann ein entspanntes Miteinander wunderbar funktionieren.“ Pro-Aging statt Anti-Aging!

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