Primum non nocere

Im Gespräch mit Altersmediziner Dr. Michael Schwab über das Delir

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„Ärztliche Kunst zeigt sich in der gezielten Auswahl von Maßnahmen für eine bestimmte Person. Auch das Weglassen von Medikamenten oder Eingriffen, die mehr Schaden als Nutzen für den Patienten hätten, kann der richtige Weg sein“, sagt Dr. Schwab. Foto: Susanna Khoury

„Ein 80-Jähriger erleidet einen Herzinfarkt, bekommt im Krankenhaus drei Stents und wird 100. Das war vor 30 Jahren noch undenkbar. Solche Krankengeschichten erleben wir als Geriater heute dauernd: Regelhafte Heilungen von schwersten Krankheiten im hohen Alter“, berichtet Altersmediziner Dr. Michael Schwab aus dem Geriatrie-Zentrum des Würzburger Bürgerspitals.

Aber wie so oft im Leben gibt es nichts umsonst: keine Wirkung ohne Nebenwirkung. Die über 80-Jährigen sind die am schnellsten wachsende Patientengruppe in den Kliniken – eine Tatsache, die der Demografie und dem medizinischen Fortschritt geschuldet ist. Und genau diese Gruppe ist am häufigsten vom Delir (Störung der kognitiven Leistungsfähigkeit meist direkt nach einer Operation/Narkose) betroffen.

„Der Alterspatient hat vielfach Mehrfacherkrankungen, sein System ist störbarer und Folgeerscheinungen aufgrund von Eingriffen wiegen oft schwerer“, so Dr. Schwab. Während bei jungen, relativ gesunden Patienten das Delir eine seltene, kurzfristige und vollständig ausheilende Angelegenheit ist, kann es bei älteren multimorbiden Patienten Dauerschäden hervorrufen.

Das Delir ist eine Bewusstseinsstörung, die mit zeitlicher Desorientierung, Unruhe, Aggression, Angst oder auch Weinerlichkeit einhergehen kann. Hier spreche man dann vom hyperaktiven Delir – einer Form, die relativ schnell auffällt, weil die Patienten durch Umtriebigkeit den Betrieb „stören“. Anders ist das beim hypoaktiven Delir, das oftmals übersehen wird, da der Patient sich zurückzieht.

Schwerfälligkeit, verminderte Aufmerksamkeit, Apathie, und verlangsamte Sprache seien hier die Symptome. Die Narkose sei nicht alleinverantwortlich für ein Delir, bricht der Chefarzt der Geriatrie im Bürgerspital eine Lanze für die Anästhesisten.

Für ältere, betagte Patienten ist ein Klinikaufenthalt per se schon ein Ausnahmezustand: fremde Umgebung, fehlende Privatsphäre, fremde Hände, die einen anfassen, Medizinersprache, Schmerzen, Angst, schlechter Schlaf – all das führe zu einer Unkontrollierbarkeit der Situation, die überfordert. Das allein könne schon ein Delir auslösen.

Klinikmediziner sind Spezialisten. Sie heilen Krankheiten, an denen man vor 30 Jahren noch gestorben wäre. Die Kehrseite der Medaille: Sie verlieren oft aus dem Blick, was der geschäftige Klinikalltag, der durch DRGs und andere monetäre Stellschrauben getaktet ist, im Kopf ihrer Patienten anrichtet. Das kann dazu führen, dass eine übersehene latente Demenz eines älteren Patienten über die kritische Schwelle gehoben wird und sich manifestiert.

Nach hippokratischer Tradition sollte der Leitspruch „primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare“ („erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen“) immer allem voran gestellt werden, auch in einem auf Effizienzstreben ausgerichteten Krankenhausbetrieb.

Der Arzt in seinem Bemühen, das ihm anvertraute Individuum zu heilen, soll demnach zuallererst bestrebt sein, ihm nicht zu schaden. Zudem solle er achtsam (vorsichtig) sein, um zu erfassen, was mit dem Patienten tatsächlich los ist (ganzheitlicher Blick auf den Menschen) und dann erst die für die Heilung erforderlichen Schritte einleiten.

„Wenn alle vorhandenen Patienteninfos vom Hausarzt beispielsweise zur rechten Zeit am rechten Ort verfügbar sind, sprich vor einer Operation dem Klinikarzt vorliegen, dann gewinnt der Patient und am Ende die Medizin“, betont Dr. Michael Schwab.

„Es gibt klare Richtlinien in der Akutgeriatrie, Standards, geschultes Personal und Wissen um die Altersmedizin. Geriater haben auch das „geeignete Werkzeug“, um beispielsweise Altersverwirrtheit von beginnender Demenz zu unterscheiden… von diesen Ärzten für Altersmedizin haben wir allerdings zu wenige!“

Eine medikamentöse Therapie des Delirs ist nur sehr eingeschränkt möglich, aber viele vorbeugende Maßnahmen sind hochwirksam: Kontrollhilfen, die man dem Gehirn gibt, technische Hilfsmittel, Ansprache, Empathie, verständliche Erklärungen, Respekt, Unterstützung – alles, was Sicherheit gibt. Unsicherheit destabilisiert! „Manchmal reicht schon das zuhause vergessene Hörgerät oder die vergessene Brille, dass der ältere Patienten sich desorientiert fühlt“, so Schwab.

Das allein löse zwar kein Delir aus, könne aber der berühmte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringe. Das Evangelische Krankenhaus Bielefeld, Lehrkrankenhaus der Universität Münster, hat als eine der ersten Kliniken in Deutschland reagiert und das aus den USA stammende Delir-Vorbeugungsprogramm Help (hospital elder life programm) in der Akutgeriatrie installiert.

Dem älteren Patienten werden hier junge Menschen an die Seite gestellt, die sich kümmern, Fragen beantworten, oder jemanden organisieren, der das tut, aus dem Bett helfen, motivieren zu essen oder einfach nur über Gott und die Welt plaudern.

Die meisten von Ihnen absolvieren im Evangelischen Krankenhaus Bielefeld ihr Soziales Jahr. Sie übernehmen keine Pflegearbeiten, sondern sind „nur“ zum Erklären, Beruhigen und Zuhören da. Dinge, die sich das moderne Krankenhaussystem immer weniger leisten kann.

„Help bietet low-tech in einer high-tech Umgebung“, betont der Leitende Oberarzt in der Abteilung für Gerontopsychiatrie in Bielefeld, Dr. Stefan Kreisel.

Auch in Würzburg erarbeitet eine Arbeitsgruppe im Rahmen des „Desi“-Projekts („Demenzsensibles Krankenhaus“) der Universitätsklinik Würzburg gemeinsam mit der Fachhochschule ein Konzept zur Reduktion des Delir-Risikos.

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