Neues Organ Mikrobiom?

Wie Bakterien den Körper und sogar die Psyche beeinflussen. Im Gespräch mit Prof. Dr. Jörg Vogel, Leiter des Helmholtz-Instituts in Würzburg.

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„Wir müssen die langfristigen Auswirkungen einzelner Bakterienspezies verstehen um die Mikrobiota erfolgreich zu manipulieren“ meint Professor Jörg Vogel. Foto: ©HZI

Die Darmflora beeinflusst weit mehr als bisher vermutet. Neben der Physis womöglich auch die Psyche. Lange galten Bakterien im Darm nur als simple Verdauungshelfer. Doch nun ist klar: Der menschliche Organismus ist mit seinen Mikroben stark verflochten … wie stark, das wollte Lebenslinie-Chefredakteurin Susanna Khoury von Biochemiker Professor Dr. Jörg Vogel, Leiter des Helmholtz-Instituts für RNA-basierte Infektionsforschung in Würzburg, wissen.

Lebenslinie (LL): Inwieweit hängt der Mensch von seinen Bakterien ab?
Professor Jörg Vogel (JV): „Das wird im Moment unter Wissenschaftlern intensiv diskutiert. Während immer mehr Studien einen möglichen Zusammenhang zwischen Mikrobiom und Krankheiten des Darms, aber auch von Verhaltensstörungen oder Autismus, nahelegen, warnen andere Wissenschaftler davor, den Einfluss des Mikrobioms auf seinen Wirt zu überhöhen. Simple Korrelationen wie etwa Änderungen der Mikrobiom-Zusammensetzung bei einer Krankheit, müssen nicht zwangsläufig ursächlich für diese Krankheit sein. Sie können auch als Begleiterscheinung auftreten.“

LL: Sie sagten beim Infektiologen-Kongress kürzlich in Würzburg: Das Mikrobiom ist ein „neues Organ“ – die Erkenntnisse hieraus werden die Medizin revolutionieren. Inwiefern?
JV: „Wir haben in und auf unserem Körper mindestens genauso viele Bakterien wie wir eigene Körperzellen haben, also rund zehn Billionen. Allein im Darm sind es etwa eintausend verschiedene Bakterienarten. Nur ein Bruchteil wurde bisher genauer untersucht. Das ändert sich gerade. Es wird zunehmend klar, dass die Stoffwechsel-Aktivitäten vieler Bakterien Einfluss auf den Körper haben, aber auch darauf, wie Medikamente wirken. Also muss man diese Zahl von Bakterien, die uns von Geburt an begleiten, als ein zusätzliches ‚Organ‘ denken, dessen Zustand ein Arzt bei der Behandlung eines Patienten kennen sollte.“

LL: Bei Reizdarm-Patienten sind bestimmte Mikroben häufiger im Darm zu finden als bei Menschen ohne Reizdarmsyndrom. Ist das ein Indiz dafür, dass Krankheiten im Mikrobiom festzustellen sind?
JV: „Vielen Krankheiten unterliegt eine sogenannte Dysbiose, also ein Ungleichgewicht in der Darm-Mikrobiota. Aber die exakte Signatur ist noch nicht bekannt. Sicher muss auch hier erwähnt werden, wie schwer es ist, Wirkung und Ursache zu unterscheiden: Ist ein Reizdarm das Resultat einer veränderten Mikroflora, oder ändert sich das Mikrobiom als Anpassung an einen Reizdarm? Aber dass es eine Verbindung gibt, daran besteht kein Zweifel.“

LL: Kann man so weit gehen und behaupten, dass Darm-Mikroben jede körperliche Regung beeinflussen?
JV: „Generell haben wir eine sehr einseitige Vorstellung des Mikrobioms: Wir werden von ‚guten‘ Bakterien kolonisiert, die uns schützen, während ‚schlechte‘ Bakterien Krankheiten hervorrufen. Ist beispielsweise die Zusammensetzung der Darm-Mikrobiota gestört, fügen wir gern ‚gute‘ Bakterien (Probiotika) hinzu, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Dabei wird häufig übersehen, dass der gesunde Wirt genau kontrollieren kann, ob und wenn ja, mit welchen Bakterien er wo kolonisiert sein möchte. Beispielsweise nehmen lichterzeugende Tintenfische gezielt Vibrio-Bakterien aus der Umgebung auf und kultivieren diese. Die Bakterien sorgen dann dafür, dass die Fische leuchten. Auch wir Menschen haben stringente Mechanismen entwickelt, um unseren Körper gezielt kolonisieren zu lassen. Im Gehirn ‚wollen‘ wir beispielsweise keine Bakterien haben und tatsächlich gelingt es, das Encephalon steril zu halten. Anders sieht es im Darm aus: Hier ‚wollen‘ wir Bakterien haben, weil wir alleine gar nicht in der Lage wären, den Großteil unserer Nahrung aufzuschließen. Entsprechend ‚erlauben‘ wir Bakterien aus der Umgebung sich dort anzusiedeln.“

LL: Es gibt Darmbakterien, die wandeln unverdauliche Pflanzenfasern in kurzkettige Fettsäuren wie Acetat, Propionat und Butyrat um, die dann im Darm Entzündungen entgegenwirken. Andere Mikroben benutzen Gallensäuren, die von der Leber hergestellt werden, die angriffslustige Abwehrzellen beschwichtigen oder das Darmgewebe stabilisieren. Bakterien der Art Bacteroides fragilis wiederum stellen eine Zuckerverbindung her, die ebenfalls Entzündungsreaktionen unterdrückt. Kann man aus diesem Wissen heraus die ideale Mikroben-Nahrung für ein intaktes Immunsystem benennen?
JV: „Dieses Wissen ist sicherlich hilfreich. So können beispielsweise probiotische Bakterien alleine häufig nicht in einem bereits kolonisierten Darm anwachsen. Gibt man ihnen jedoch ihren persönlichen ‚Proviant‘ mit auf den Weg, erhöhen sich die Chancen. Man spricht hier von Prebiotika, also Nahrung die von bestimmten Mikroben verwertet werden kann. Man kann sicher sagen, dass ein gesundes Immunsystem aus einer gesunden Entwicklung der Mikrobiota resultiert. Nahrung wiederum ist einer der größten Faktoren, die die Mikrobiota beeinflussen.“

LL: Das Mikrobiom verändert sich, ist nicht festgeschrieben. Nahrungsumstellung, Medikamente, die Umgebung, all das kann zu einer Veränderung der Mitbewohner im Darm führen. Wie kann man diese positiv beeinflussen, wie negativ?
JV: „Das ist sehr schwer zu beantworten. Alleine schon deshalb, weil häufig gar nicht klar ist, welche die ‚guten‘ und welche die ‚bösen‘ Bakterien sind. ‚Normale‘ Bakterien, die in jedem gesunden Darm vorkommen, können plötzlich zu krankhaften werden. Andere Bakterien rufen keine akuten Symptome hervor, stehen aber im Verdacht, auf lange Sicht die Entwicklung von Darmkrebs zu begünstigen. Wieder andere Bakterien sind nützlich in bestimmten Organen, können aber schwere Krankheiten hervorrufen, wenn sie in andere Körpergewebe gelangen. Solange wir nicht im Detail geklärt haben, welches die Konsequenzen und Langzeitfolgen einzelner Bakterienspezies für die Gesundheit sind, ist es riskant, unsere Mikrobiota zu manipulieren. Was jedoch sicher ist, ist, dass diese Mikrobiota dem Menschen Jahrtausende lang gute Dienste geleistet hat. Durch die Evolution hat sich die Mikrobiota-Zusammensetzung herauskristallisiert, die zu uns am besten ‚passt‘. Wenn wir jetzt hergehen und innerhalb weniger Jahre unsere Ernährung komplett umstellen, wie dies etwa in der westlichen Zivilisation gerade geschieht, kann das dramatische Folgen haben.“

LL: Kann ich an der Analyse des Mikrobioms erkennen, an welchen Krankheiten ein Mensch leidet?
JV: „Ich würde sagen, momentan noch nicht allzu verlässlich, zumindest nicht für spezifische Krankheiten. Aber das ist die große Hoffnung, dass man aus der Zusammensetzung der Mikrobiota aktuelle oder zukünftige Krankheiten vorhersagen kann.“

LL: Kopf und Bauch verständigen sich – ­inwieweit wirken Darmbakterien auch auf die Psyche? Stichwort: Darm-Kopf-Kommunikation?
JV: „Das ist momentan ein ganz heißes Thema. Ein Einfluss auf Verhalten, Lernkapazität und Gedächtnis ist nachgewiesen, allerdings nur im Tiermodell. Klinische Studien am Menschen, die klar einen Einfluss belegen, stehen noch aus. Die bereits erwähnte Dysbiose, aber auch Infektionen mit Darmpathogenen oder die Gabe von Probiotika können alle diese Funktionen beeinflussen.“

LL: Was erwarten Sie von der Mikrobiom-­Forschung der nächsten zehn Jahre?
JV: „In zehn Jahren ist alles möglich: Von ‚das Mikrobiom erklärt alles‘ bis hin zu einem ernüchternden Fazit ‚da haben wir vor zehn Jahren wohl etwas übertrieben‘. Persönlich erwarte ich mir aber aus der Forschung einen neuen Typ von RNA-basierten Antibiotika, mit denen wir diese vielen verschiedenen Spezies der Mikrobiota gezielt beeinflussen können.“

Das Interview mit Professor Jörg Vogel, Leiter des Helmholtz-Instituts für RNA-basierte Infektionsforschung in Würzburg, führte Lebenslinie-Chefredakteurin Susanna Khoury.

www.helmholtz-hiri.de

Immun gegen Fett mit Insulin?
Kanadische Wissenschaftler entdeckten kürzlich die Rolle, die Inulin (wasserlöslicher Ballaststoff) für das Mikrobiom spielt. Der Stoff, der in natürlicher Form beispielsweise in Chicoree und Zwiebeln vorkommt, verhindere eine Dysbalance der Bakterienspezies im Darm und somit das Risiko einer Gewichtszunahme oder Stoffwechselstörungen bei „falscher“ Ernährung, so die Forscher. Die Studie helfe zu verstehen, wie bei fettreicher und ballaststoffarmer Ernährung, Mikrobiom und Wirtsorganismus zusammenwirken, so die Autoren. Sie mache verständlich, warum typisch westliche Diäten zu Adipositas und metabolischem Syndrom führten. Es sei ratsam, so die vorläufigen Ergebnisse des Experiments, auch bei nur vorübergehender fettreicher Ernährung, Ballaststoffe wie Inulin zuzuführen. Da es sich bei Inulin um einen Mehrfachzucker, der aus mehreren Fruktosemolekülen besteht, handele, sei der Ballaststoff bei Fruktose-Unverträglichkeit jedoch nicht empfehlenswert. Ob man so weit gehen kann, dass Inulin immun gegen Fett mache, dafür bedürfe es weiterer Studien.
Quellen: Hjorth, MF, et al, „Pre-treatment microbial Prevotella-to-Bacteroides ratio, determines body fat loss success during a 6-month randomized controlled diet intervention.“ International Journal of Obesity, 8. September, 2017. Nicolucci, A. et al, „Prebiotics Reduce Body Fat and Alter Intestinal Microbiota in Children Who Are Overweight or With Obesity.“ Gastroenterology, September, 2017, Volume 153, Issue 3,Pages 711–722.

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