Mit Fingerspitzengefühl

Wie eine blinde Frau Brustkrebs ertastet

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„Mit rund 70.000 Neuerkrankungen jährlich ist Brustkrebs die häufigste Krebserkrankung bei Frauen“, informiert das Robert Koch-Institut¹. Auf Basis der Daten würde damit im Schnitt eine von acht Frauen im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs erkranken. Vorsorge scheint angebracht. Tastuntersuchungen durch Gynakolog:innen sowie Mammografie-Screenings sind die gängigsten Präventionsmaßnahmen. Die Mammografie wird Frauen sogar als gesetzliche Vorsorgeleistung zwischen dem 50. und 69. Lebensjahr alle zwei Jahre angeboten. Ergänzend können Mädchen und Frauen jeden Alters seit einigen Jahren auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten blinder und sehbehinderter Frauen zurückgreifen. Diese können bereits sehr kleine Veränderungen im Brustgewebe früh ertasten. Geschuldet ist diese besondere Gabe ihren geschärften Sinnen und einer fast einjährigen Zusatzausbildung. In der Bamberger Praxis für Frauengesundheit wird die sogenannte Taktilographie (TBU) seit März 2021 angeboten – bislang einmalig in Oberfranken.

Einmal pro Woche ist Andrea Windbichler von der Initiative „discovering hands“ in der Praxis, um Ruben Pitsch und seine Kollegin Stefanie Harrer in der Brustkrebs-Diagnostik zu unterstützen. „Es ist keine Alternativbehandlung“, betont Windbichler. „Ich stelle keine Diagnose! Meine Untersuchung findet unabhängig von schulmedizinischen Maßnahmen zusätzlich statt.“ „Sie ertastet Dinge, die wir nicht spüren können“, so Pitsch. Als Medizinisch-Taktile Untersucherin (MTU) nähert sich Andrea Windbichler den Patientinnen mit Fingerspitzengefühl. Ungefähr 30 bis 60 Minuten plant sie für eine manuelle Tastuntersuchung. Die Ertastbarkeit von Auffälligkeiten hänge unter anderem von der Brustgröße und der Gewebebeschaffenheit ab. „Bevor es losgeht, erstellen wir einen Anamnese-Bogen“, erklärt Windbichler. Die eigentliche Untersuchung, die sie seit nunmehr zehn Jahren durchführt, beginnt mit dem Abtasten der Lymphknoten. „Der erste Überblick über beide Brüste erfolgt im Sitzen.“ So erfühlt sie am besten ihre Beschaffenheit, aber auch Temperaturunterschiede. Liegen die Patientinnen, werden die Brüste mit Klebestreifen in vier Quadranten eingeteilt. „Anschließend taste ich Reihe für Reihe, Zentimeter für Zentimeter ab.“ Das geschieht spiralförmig in drei unterschiedlichen Druckstärken.

Die blinde Frau ist in der Lage, winzige Veränderungen aufzuspüren. „Die kleinste lag bei fünf Millimetern“, berichtet sie. Gynäkolog:innen ertasten Tumore meist erst ab etwa einem Zentimeter. Entdeckt Windbichler etwas Ungewöhnliches, markiert sie die betroffene Stelle und informiert die Ärzt:innen. „Wenn ein verdächtiger Befund entdeckt wird, organisieren wir eine schnelle Diagnostik mit Mammografie, Stanzbiopsie und die Vorstellung in der Brustsprechstunde. Die weitere Behandlung bleibt dann aber in den Händen der betreuenden Gynäkolog:innen“, so Pitsch. MTUs können eine Lücke – nicht nur – in der Diagnostik schließen. Das bestätigt auch eine Studie der Universität Erlangen. Diese hat 2017 die Wirksamkeit der Taktilographie bestätigt. Das Fazit: „Der Einsatz von MTU zusätzlich zu Fachärzt:innen kann die Sterblichkeit senken, im Gesundheitssystem Kosten mindern und Frauen motivieren, Präventionsangebote wahrzunehmen.“²

Quellen:
¹www.krebsdaten.de/Krebs/DE/Content/Krebsarten/Brustkrebs/brustkrebs_node.html,
²www.clicclac.de/articles/der-hochsensible-tastsinn-blinder-frauen-rettet-leben

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