Mehr als bloße Ablenkung

Musik und Literatur können die Lebensqualität bei Demenz deutlich steigern

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Fast 50 Millionen Menschen, schätzt die WHO, leiden weltweit an Demenz. Tendenz steigend: Im Laufe der nächsten zehn Jahre könnten es 75 Millionen werden. Inwieweit Künste für demenziell veränderte Menschen und ihre Angehörigen hilfreich sind, das untersucht aktuell ein internationales Forschungsteam. Musiktherapeuten der Würzburger Hochschule für angewandte Wissenschaften (FHWS) sind darin integriert. „Homeside“ nennt sich die Initiative. Dass ihr demenzkranker Partner schon wieder etwa ganz Verrücktes angestellt hat oder die an Demenz leidende Mutter zum zehnten Mal nachfragt, welcher Tag heute ist, kann Angehörige schier zur Verzweiflung bringen. Im Projekt „Homeside“ geht es darum, die Lebensqualität solcherart „entnervter“ Angehöriger und gleichzeitig die der demenziell veränderten Menschen durch Künste zu steigern. Musiktherapeutinnen zeigen dabei Angehörigen vor Ort sowie über Videotelefonie, wie sie durch Musik und Literatur für Entspannung und schöne Momente sorgen können.

Ihrer demenzkranken Mutter oder ihrem Partner von Zeit zu Zeit etwas vorsingen, ist für einige Angehörige ganz selbstverständlich. Möglicherweise nehmen sie dabei sogar wahr, dass dieses Singen einen beruhigenden Effekt hat. Laut Thomas Wosch, FHWS-Professor für Musiktherapie in der Sozialen Arbeit, kann diese Wirkung durch „situative Lieder“ noch einmal gesteigert werden. Dabei wird ein Lied, das der Mensch mit Demenz einst gern gesungen hat oder dass er mit einem schönen Erlebnis verknüpft, etwa mit einem tollen Urlaub, unter Einbezug von Bewegungen und Berührungen gesungen. Vielleicht tanzt der Angehörige mit seinem demenziell veränderten Vater dazu sogar im Wohnzimmer. In den Familien, die an „Homeside“ teilnehmen, ist das inzwischen Usus. Erste Beobachtungen aus dem im Januar 2020 gestarteten Projekt, das gut zwei Jahre laufen wird, zeigen: Situatives Singen kann ebenso wie lebendiges, mit Berührung und Aktion verknüpftes Vorlesen dazu beitragen, negative Effekte einer Demenz zu mildern.

„Wir haben bisher außerdem erlebt, dass die Paare dadurch biografische Details voneinander erfahren, die ihnen bis dahin ganz unbekannt waren“, berichtet Wosch. Die Tochter erfährt zum Beispiel, dass der Vater früher einmal im Kirchenchor gesungen hat. Oder die Mutter erzählt plötzlich von einem Lehrer, den sie noch nie zuvor erwähnt hatte. Mit der Intervention gelingt es, für Momente aus dem Alltag auszubrechen, Sorgen und Konflikte zu vergessen. Wie stark die Effekte sind, eben das soll in dem internationalen Forschungsprojekt untersucht werden. Daran beteiligt sind Wissenschaftler aus Australien, Deutschland, Großbritannien, Norwegen und Polen. Den deutschen Part bestreitet Thomas Wosch mit seinen Kolleginnen Laura Blauth und Carina Petrowitz.

Pro Monat werden vier bis fünf neue Paare aus der Region aufgenommen. Familien, die Interesse an der kostenlosen Studie haben, können sich bei Laura Blauth melden: laura.blauth@fhws.de oder unter Telefon 0931.35118204.

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