Komfortzone Magersucht?

Wie Anorexie Betroffenen das Gefühl gibt, alles im Griff zu haben

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Über gestörte Körperbilder bei Patientinnen mit Essstörungen berichtet eine Studie der Universität Osnabrück. Jetzt ist eine Folgestudie mit männlichen Probanden geplant.
Foto: Illustration Körperbildstudie ©Universität Osnabrück/Agnes Lederbogen

“Nichts schmeckt so gut, wie sich dünn sein anfühlt“, zitiert Nora M.¹ Supermodel Kate Moss, die mit 1,72 cm Körpergröße zeitweise 45 Kilo auf die Waage brachte. Die 21-jährige Würzburgerin Nora wog schon einmal 34 Kilo (BMI von 11,8) und war in den letzten elf Jahren wegen Magersucht (Anorexia nervosa) mehrfach in verschiedenen Kliniken und Einrichtungen. Ähnlich wie für die in Berlin arbeitende freie Autorin Larrissa Sarand, die über ihre Magersucht das Buch „Friss oder stirb“ schrieb, hat Anorexie für beide nichts mit dem Erreichen eines Schönheitsideals zu tun.

„Kein Mädchen mit dieser Essstörung hungert, weil es schön sein will. Im Gegenteil: Sie hungern oft, um keine Brüste zu bekommen, oder für Männer nicht interessant zu sein“, zitiert Nora M. Aussagen ihrer Klinikbekanntschaften. „Auch ich wollte nie perfekt sein im ‚dämlichen‘ Sinn von ‚Size Zero‘, sagt Larissa Sarand, die mit 39 Kilo anfing ihrem Leben eine andere Richtung zu geben … kalorientechnisch nach oben.

Lebenslinie hat sich mit beiden Frauen über ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit dieser Krankheit unterhalten und übereinstimmende, aber auch sehr unterschiedliche Aussagen erhalten. Forschungsergebnissen der Universität Osnabrück zufolge, zählt die Essstörung Anorexia nervosa (Magersucht) zu einer der schwerwiegendsten Erkrankungen im Kindes-, Jugend- und jungen Erwachsenenalter.

Anorexie gehe mit gravierenden körperlichen und psychischen Symptomen und Folgeschäden einher, so die Leiterinnen der Studie Professor Silja Vocks und Dr. Anika Bauer. Die Anorexie stelle sogar die psychische Störung mit der höchsten Sterblichkeitsrate dar.

Hungern für die Kontrolle?

Warum hungert man denn dann, wenn nicht für die „Schönheit“? „In meinem Fall lag der Auslöser für die Essstörung im Krebstod meines Vaters (März 2014) und im anschließenden Suizid meiner Mutter (April 2014). Offenbar habe ich versucht, diesen Kontrollverlust in meinem Leben mit einem Höchstmaß an Kontrolle meiner Ernährung zu kompensieren“, erzählt die heute 30-jährige Autorin Larissa Sarand vom schleichenden Hineingleiten in die Anorexie.

Auch Nora M. sieht in der Magersucht ein Kontrollinstrument: „Kalorienzählen, Essen vermeiden und Sport strukturieren den Tag und lenkt davon ab, dass man alleine oder traurig ist. Anorexia füllt die Leere aus und gibt einem das Gefühl, alles im Griff zu haben!“ Die Krankheit sei eine „Freundin“, sagt die junge Frau reflektierend, daher könne man sie auch nicht so leicht loslassen. Ob Freund oder Feind? Das sei manchmal schwer auseinander zu dividieren.

Magersucht scheint auf jeden Fall eine Komfortzone zu sein, ein Schutzraum, in den sich Betroffene aus irgendeinem Grund begeben haben. „Die Krankheit war eine äußerst gut funktionierende Ablenkungsstrategie. Dadurch, dass ich quasi 24/7 mit dem Thema Essen respektive Nicht-Essen beschäftigt war, konnte (oder musste) ich mich mit nichts anderem befassen – auch nicht mit dem Tod meiner Eltern. Insofern hatte die Anorexie durchaus eine Entlastungsfunktion“, so die Berlinerin Sarand.

Auch Nora sieht das so: „Ich bin zu einer Expertin in Sachen Ernährung geworden, allerdings im negativen Sinn!“ M. weiß genau, wie viele Kalorien welches Lebensmittel hat oder wo man kalorienfreie Kokos- oder Nugatdrops bestellen kann. „Wenn man auf sein Essverhalten achten muss, hat man keine Zeit über sich und die Welt nachzudenken“. Einen Trigger für die Essstörung sehe sie in der Tatsache, dass sie als Kind etwas mollig gewesen sei, und deswegen oft gehänselt wurde. Auch wenn sie immer von Verlustängsten geplagt war, wie Nora sagt, sehe sie in der Trennung ihrer Eltern keinen Auslöser für die Krankheit.

Verlorengegangene Kontrolle wieder erlangen also als Leitmotiv von Magersucht? Einstimmiges „Ja“ von beiden Interviewpartnerinnen. Und mit Kontrolle habe es auch zu tun, dass Betroffene die Essstörung verheimlichen und erst ganz spät vor sich und anderen zugeben können, dass sie ein Problem haben.

Ein Frauenproblem?

Mehr als drei Mal häufiger sind junge Frauen als junge Männer von Anorexie betroffen.² Laut Statistischem Bundesamt starben zwischen 1998 und 2012 in Deutschland pro Jahr bis zu 100 Menschen an Essstörungen, etwa 90 Prozent davon seien Frauen gewesen.³ Warum vertraut man sich niemandem an, wenn man Anorexie hat, oder erst sehr spät? „Weil man sich seine Erkrankung selbst schwer eingestehen kann. Außerdem ist es schambehaftet, dass man eine der normalsten Sachen der Welt, die jedes Baby intuitiv beherrscht, nicht mehr leisten kann: das Essen.

Magersüchtige sind für gewöhnlich sehr leistungsorientiert und dieses ‚Versagen‘ ist schwer erträglich“, berichtet Sarand aus eigener Erfahrung. Nora M. kam völlig abgemagert von einer Klassenfahrt nach Hause, fern von Zuhause lebte sie ihre Anorexie erstmals richtig aus. Der sichtbare Gewichtsverlust „outete“ sie letztendlich auch gegenüber ihren Eltern als magersüchtig.

Larissa Sarand beschreibt es eindrücklich in ihrem Buch, wie Magersucht einen zum Lügner und Betrüger mache, vornehmlich Menschen gegenüber denen man nahe steht: „Man zieht sich aus dem Sozialleben zurück, meidet Verabredungen, mit denen gemeinsames Essen verbunden ist. Man wird zum Profi-Lügner.“

Nora M. ging sogar soweit, dass sie versucht hat, medizinisch notwendige Interventionen zu torpedieren: „Als ich das dritte Mal eine Magensonde hatte, habe ich versucht mit einer Spritze die flüssige Nahrung wieder herauszuziehen. Vor dem wiegen in der Klinik habe ich häufig literweise Wasser getrunken und mir Gewichte am Körper befestigt, um Körpergewicht vorzutäuschen, das nicht da war“, erzählt Nora M. aus ihrer schlimmsten Zeit.

Nicht geheilt, aber satt!

Beide Frauen sehen sich nicht als geheilt, das gibt es bei dieser Krankheit wohl nicht! Nora isst immer noch nicht „normal“, zählt akribisch Kalorien und treibt mindestens eine Stunde Sport am Tag. Wie viel sie wiegt, wisse sie nicht, das kontrolliere sie nicht mehr. Sie arbeitet wieder halbtags und fühle sich meistens recht gut.

Larissa Sarand geht es ähnlich: „Geheilt bin ich nicht, das wäre zu hoch gegriffen! Das Wissen, das ich mir etwa über Nährwerte angeeignet habe, kann ich nicht einfach von der Festplatte löschen; ich zähle beim Essen automatisch Kalorien. Vielleicht verhält es sich mit Magersüchtigen wie mit Alkoholikern: Die sind auch noch Alkoholiker, wenn sie trocken sind. Und ich bin eben eine Magersüchtige, aber satt“, so Sarand.

Quellen:
1 Name von der Redaktion geändert,
2 Jacobi, F. et al. (2013). Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH). Der Nervenarzt; 85:77–87,
3Statistisches Bundesamt 2014 – Todesfälle aufgrund von Essstörungen in Deutschland in den Jahren 1998 bis 2012: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/28905/umfrage/todesfaelle-durch-essstoerungen/

Das Interview mit Larissa Sarand aus Berlin und Nora M. aus Würzburg führte Lebenslinie-Chefredakteurin Susanna Khoury

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