Instabil, zerbrechlich und angreifbar

Dr. Thomas Kirchmeier, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, über Corona und die Folgen für die psychische Gesundheit

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Corona ist zu einem Virus mutiert, das uns nicht nur medizinisch, sondern auch psychisch angreift. Hier wieder ein Lockdown, dort erneut Beschränkungen. „Social Distancing“, das eigentlich als physisches Abstandhalten zum Gesundheitsschutz gedacht war, ist längst zum „sozialen Abstandhalten“ geworden – mit weitreichenden Folgen für die psychische Gesundheit der Menschen. Lebenslinie hat sich daher mit Dr. Thomas Kirchmeier, Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Höhenklinik in Bischofsgrün, unterhalten. „Der Umgang mit der Corona-Pandemie war und ist weltweit eine Art ‚Verhaltensexperiment‘ und Jede und Jeder ist hier für sich selbst verantwortlich“, sagt Dr. Kirchmeier. „Ich kann die Pandemie per se nicht verändern. Ich kann jedoch meinen Umgang mit den augenblicklichen Gegebenheiten zumindest ein Stück weit anpassen und beeinflussen“, sagt der Chefarzt der Höhenklinik in Bischofsgrün.

Foto: Dr. Kirchmeier ©Höhenklinik Bischofsgrün

Dazu gehören für den Mediziner ein bewusster und restriktiver Umgang mit Medien. Das heißt, sich einmal am Tag über den aktuellen Stand informieren und nicht stundenlang ungefiltert berieseln lassen. Und er rät: „Nehmen Sie sich mindestens zwei positive Aktivitäten für den Tag vor. Und gehen Sie regelmäßig raus, Bewegung an der frischen Luft tut gut.“ Ebenso wichtig sei der Austausch mit anderen Menschen über das, was einen umtreibt. Und entspannen. Dies könne in Form von Meditation zum Beispiel geschehen, jeden Tag fünf bis 15 Minuten oder auch in jeder anderen Form, die individuell guttue. Natürlich gebe es Personengruppen, die in dieser Krisensituation besonders gefährdet seien. „Menschen mit bereits psychiatrisch-psychosomatischen Vorerkrankungen, Kinder und Jugendliche, aber auch Singles“, fasst Dr. Kirchmeier den Status quo zusammen. Auch Personen, die Gefahr laufen, ihre berufliche und damit auch finanzielle Existenz durch coronabedingte Einschränkungen zu verlieren, seien hier genannt.

Ebenso nähmen Eskalationen von Gewalt merklich zu: Familien mit Kindern müssen sich auf ungewohnt engem Raum arrangieren, andere haben Berufsverbot und bangen um ihre Existenz. „Da läuft man Gefahr, dass Spannungen eskalieren und es zu verbaler oder körperlicher Gewalt kommt“, verdeutlicht Dr. Kirchmeier. Eine nicht zu vernachlässigende Gruppe, nämlich die der Frauen, war und ist in der Pandemie besonderen psychischen Belastungen ausgesetzt: zuhause arbeiten, parallel Kinder betreuen und beschulen, einkaufen und zudem alles am Laufen halten. Die Burnout-bedingte Arbeitsunfähigkeit hat sich in den vergangen zehn Jahren sowieso schon verdreifacht. Hauptsächlich betroffen: Frauen! Sattelt Corona hier noch oben drauf? „Damit müssen wir rechnen, da die pandemiebedingten Belastungen verstärkt berufstätige Mütter und die Berufsgruppe Pflege, auch vielfach Frauen, betreffen“, so Kirchmeier. Ein weiterer neuralgischer Punkt ist die Veränderung des Alkohol- und Tabakkonsums während der Lockdowns. Die Pandemie sieht Dr. Kirchmeier als idealen Nährboden für die Entwicklung zumindest eines missbräuchlichen Verhaltens von legal verfügbaren Suchtmitteln wie Alkohol oder Nikotin. Allerdings müssten für die Entwicklung einer Abhängigkeitsproblematik noch andere Faktoren gegeben sein, gibt er zu bedenken. Ein positives Signal ist für den Mediziner die „Perspektive eines Auswegs aus der Corona-Pandemie durch die Entwicklung eines hochwirksamen Impfstoffs und flächendeckenden Impfungen.“

Die Gefahr nach der Pandemie die Gewohnheit des vermehrten Trinkens oder Rauchens nicht mehr herunterregulieren zu können, bestehe natürlich. „Ich vermute aber stark, dass die meisten Personen, die aktuell im Rahmen der schwierigen Wochen und Monate bezogen auf die Covid-19-Pandemie bei sich bemerken, dass ihr Trinkmuster oder ihr Umgang mit Tabak sich verändert hat, diesen verstärkten Konsum nach Beendigung der Pandemie wieder herunterregulieren können.“ Auch die Nutzung von Computerspielen ist in der Pandemiezeit gestiegen. Hier sieht Kirchmeier eine verstärkte Gefahr insbesondere für Kinder und Jugendliche, in eine Suchtdynamik abzurutschen. Zumal andere Formen der Ablenkung und soziale Interaktion so gut wie verboten waren, und das Leben der Kids sich fast ausschließlich virtuell abspielte.

„Die Corona-Pandemie ist eine extreme Krisen- und Belastungssituation, die zu körperlichen und seelischen Reaktionen führen kann, wie jede andere Krisenkonstellation im Leben aber auch“, erklärt Dr. Kirchmeier. Krisen lehrten, wie instabil, zerbrechlich und angreifbar Menschen zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens seien. „Sie lehren aber auch Dankbarkeit, wie gut es uns im Leben bisher gegangen ist“, sagt der Mediziner. Viele Menschen sehen Corona auch als eine Art Entschleunigung, die es möglich macht, das eigene Leben zu reflektieren, sich darüber Gedanken zu machen, was wirklich zählt im Leben, um dann in Zukunft womöglich besser zu priorisieren?

Das Interview mit dem Chefarzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Höhenklinik in Bischofsgrün, Dr. Thomas Kirchmeier, führte Lebenslinie-Chefredakteurin Susanna Khoury.

www.hoehenklinik-bischofsgruen.de

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