Ein unschlagbares Team


„Das Paradies der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde“1: Wie therapeutisches Reiten Patient:innen wieder auf die Beine hilft

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©Schmelz Fotodesign

Rainer und Ria sind ein eingeschworenes Team. Seit vielen Jahren sehen sie sich einmal pro Woche. Sie spüren sich, gehen aufeinander zu, nehmen die Schwingungen des anderen auf. Gleichzeitig sind sie ein ungleiches Paar. Rainer ist Mitte 60. Seit einem schweren Unfall in den 1970er-Jahren hat er Probleme mit dem Rücken und den Beinen. Sein Leben ist von Dauerschmerzen begleitet. Ria ist 20 Jahre jung und eine Fjord-Dame, die seit 2017 als Therapiepferd auf dem Hof von Teresa Baumann in Güntersleben eingesetzt wird. Zusammen sind die beiden unschlagbar – davon konnte ich mich Ende Juli dieses Jahres hautnah überzeugen. Schon beim ersten Treffen mit Rainer steht diesem die Vorfreude auf die anstehende Therapiestunde ins Gesicht geschrieben. Neben einem Schutzhelm hat er Äpfel für „seine“ Ria im Gepäck. Neugierig blickt diese von der nahen Koppel herüber. Gleich soll es unter der fachkundigen Anleitung von Sonderpädagogin und Reittherapeutin Lisa losgehen. Das Trio startet geruhsam. Einen festen Therapieplan gibt es in Rainers Fall nicht. Das Pferd und Lisa folgen seinen Bedürfnissen. Was ihm guttut, wird umgesetzt. Mit dem Lebenslinie-Team im Schlepptau geht es mitten hinein in die umliegenden Wiesen und Felder. Eine sanfte Brise weht uns um die Nase. Der Geruch von saftigen Wiesen hängt in der Luft. Auch wir atmen durch. „Pferde sind Herdentiere mit einem entsprechenden Verhalten“, erklärt Lisa. „Dieses kann in der Therapie so genutzt werden, dass das Pferd die Körpersprache der Reiter:innen spiegelt. Auf diese Weise kommunizieren wir mit dem Pferd und kommen am Ende in den gewünschten Bewegungsdialog.“ Dieser Umstand, so die junge Frau, mache ruhige Pferderassen, die im Vorfeld eine solide Ausbildung durchlaufen, zu besonders guten Therapietieren. Am Ende gilt für Mensch und Pferd: „Auf den Charakter kommt es an!“ Im Laufe der 
kleinen Wanderung hält Lisa Rainer immer wieder zu kleinen Übungen an. Er sitzt ohne Sattel auf dem Pferderücken, sodass ein direkter Kontakt von Mensch und Tier gewährleistet ist. Rainer spürt Rias Wärme und ihre Bewegungen. Dabei hält er die Balance wie ein echter Profi. Er dehnt und streckt sich, kennt aber auch seine Grenzen. Insgesamt bewegt er sich sehr ausbalanciert. Seine An- und Entspannung überträgt sich auf seine tierische Begleiterin. Und sie spürt die Stimmung ihres Reiters. Die Atmosphäre ist beschwingt. Der Alltag ist für uns alle weit weg. „Wie fühlt es sich heute an?“ Lisas beiläufige Frage an Rainer ist bewusst gestellt. Denn ihre Aufgabe besteht darin, das Zusammenspiel der beiden zu verbalisieren und zu besprechen. Zu den Zielen dieser Therapieform, die sich sowohl für Kinder als auch Erwachsene eignet, gehört es, Emotionen freizusetzen. Das Selbstbewusstsein sollen gestärkt und soziale Kompetenzen erlernt werden. Ein wunderbarer „Nebeneffekt“ des Reitens: Die Koordination verbessert sich, Handlungsabläufe werden flüssiger. Insgesamt geht es um den Erhalt beziehungsweise die Verbesserung eines aktuellen Krankheitszustandes. Die Indikationen für therapeutisches Reiten seien Lisa zufolge vielfältig. Geeignet sei diese Therapie für Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten wie AD(H)S, emotionalen Störungen oder Störungen des Sozialverhaltens, körperlichen und geistigen Behinderungen, Entwicklungsverzögerungen, Körperwahrnehmungsstörungen, psychischen Erkrankungen wie Depression, Anorexie oder Bulimie, aber auch – wie in Rainers Fall – nach Unfällen, Operationen oder Infarkten. In Güntersleben betreut das Team vor allem Kinder mit sozialen oder emotionalen Schwierigkeiten oder Entwicklungsverzögerungen. „Mittlerweile kommen zunehmend auch Erwachsene mit psychischen Problematiken zu uns“, sagt Lisa.
Nicht geeignet sei therapeutisches Reiten hingegen für Menschen mit einer Pferdehaar-Allergie, Schwangerschaft, deutlichem Untergewicht, bei einem medikamentös unzureichend eingestellten Anfallsleiden, akuten Entzündungen und Schmerzen, Osteoporose, Hüftschäden oder unzureichender Körperspannung. „Die Sicherheit beim Reiten muss gewährleistet sein“, betont Lisa. „Vorkenntnisse sind nicht nötig.“ Therapeutisches Reiten, das meist mit anderen Therapieformen wie Psycho- oder Physiotherapie einhergeht, sei kein Schnellschuss. „Nach der Anamnese braucht es einige Einheiten, bis man sich eingespielt und eine gemeinsame Basis geschaffen hat“, erklärt die Expertin. „Es gibt immer wieder kleine Erfolge, die sich festigen müssen.“ Und wie geht es Rainer? „Für mich ist eine Therapiestunde in erster Linie Entspannung.“ Zeitweise vergesse er seine Schmerzen sogar. „Nach der Reitstunde geht es mir immer besser.“ Kein Wunder, seine Muskulatur wurde anders als etwa beim Laufen beansprucht. Auf dem Pferderücken ahmt er Rias Bewegungen nach. Eine Schmerzgrenze wird aber nicht überschritten. Rainer hofft, diese Art der Therapie noch lange machen zu können. Seine Krankenkasse sowie sein Arzt unterstützen ihn dabei. Aus gutem Grund: „Über die Jahre bin ich deutlich lockerer geworden. Das merke ich vor allem beim Gehen. Insgesamt kann ich besser entspannen.“ Da ist das Lebenslinie-Team ganz bei ihm. Was für ein schöner bewegender Termin …  

Quelle: 1Deutsches Sprichwörter-Lexikon (5. Band: Zusätze und Ergänzungen; Leipzig 1880, Sp. 1647) von Karl F. W. Wander

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