Die Geschichten hinter den Dingen

Dr. Sabine Schlegelmilch sammelt für die Würzburger Universität Covid-19-Objekte und Indizien dafür, wie das Virus den Alltag der Menschen verändert hat

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Dass die Covid-19-Pandemie in die Geschichtsbücher eingehen wird, dürfte niemand mehr anzweifeln. Dr. Sabine Schlegelmilch, Kustodin der Medizinhistorischen Sammlungen und Sammlungsbeauftragte der Medizinischen Fakultät an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg, begann schon Ende Februar 2020 genauer hinzuschauen. Nicht, weil sie prophetisch sei, sagt die Altphilologin: „Ich beobachte alles sehr aufmerksam, das mit Pandemien und Epidemien zu tun hat, weil wir eine Standardvorlesung zur Seuchengeschichte anbieten am Medizinhistorischen Institut.“ Angelegt hat sie nun eine Sammlung mit Corona-Objekten. Mehr noch interessiert sie sich aber für Geschichten, die spiegeln, wie die Pandemie den Alltag der Menschen beeinflusst.

Foto: Dr. Schlegelmilch ©Michaela Schneider

Die Covid19-Sammlung selbst passt bislang in einen Pappkarton. Erstes Objekt: Eine Maske der Universität Würzburg mit entsprechendem Logo, die diese an alle Lehrbeauftragten und Studierenden verschickte. Weitere Objekte kamen nach der Uni-Maske hinzu: ein Hinterkopfmaskenhalter etwa für Menschen mit Hörgeräten oder Brillen, privat hergestellt im 3-D-Drucker; ein Corona-Türöffner inklusive „Tippnoppel“, um am Geldautomaten keine Tasten berühren zu müssen; eine Doktorarbeit „Die Epidemie der Influenza“ aus dem Jahr 1837 in Würzburg im größeren Kontext der örtlichen Epidemiegeschichte; ein Schild, mit dem die Stadt Würzburg die Sperrung der Spielplätze bekannt gab, versehen mit dem Zusatz „Gemäß der Anordnung des Bayerischen Ministerpräsidenten“ als Verweis auf die Staatsgewalt.
Warum aber ist es so schwierig, Pandemie­objekte zu sammeln? Dafür ein Abstecher in die Vergangenheit: Der Würzburger Fotograf Carl Albert Dauthendey reiste Mitte des 19. Jahrhunderts nach St. Petersburg zu Verwandten, dort wütete damals die Cholera. Dauthendey schreibt in seiner Erinnerung, dass die Menschen, sobald sie das Haus verließen, eine sogenannte Cholera-Zigarette im Mund tragen mussten. Die kenne kein Mensch mehr, sagt Dr. Schlegelmilch, Dauthendey beschreibt sie wie folgt: Es handelte sich dabei um eine Gänsefeder, in deren Kiel Kampfer steckte. Man musste sie im Mund tragen, sobald man das Haus verließ, und immer wieder durchziehen, weil man Kampfer reinigende Wirkung zuschrieb. „Hygienemaßnahmen gab es also schon früher. Dinge wie diese Cholera-Zigarette werden aber klassischerweise weggeworfen und geraten dann in Vergessenheit“, sagt die Sammlungsbeauftragte.

Doch geht es Dr. Schlegelmilch weniger um die Objekte an sich, eher um die Geschichten, die dahinterstehen. Wie Corona behandelt wurde, sei dabei nur ein Teilaspekt. Noch mehr interessiert sie sich dafür, wie es Patienten ging und wie Menschen von Beschränkungen betroffen waren. Studierende bat die Sammlungsbeauftragte deshalb um kurze Ton- oder Videoaufnahmen zu ihren persönlichen Erfahrungen. Menschen aus der Region ruft sie auf, Fotos zu schicken, inklusive einer entsprechenden Erläuterung, warum das Motiv für sie wichtig ist.

Zum Beispiel bekam die 46-Jährige das Foto einer einfachen, blauen Einkaufsklappkiste geschickt. Daran hing ein Zettel mit der Aufschrift „Bitte Essen hier reinstellen. Vielen Dank, dass ihr das macht“. Die Geschichte dahinter: Eine Tochter hatte für die Mutter Essen auf Rädern bestellt und die Kiste auf die Terrasse gestellt, um einen direkten Kontakt zu vermeiden. Die Mutter aber war dement, räumte die Kiste immer wieder auf – und keiner wusste wohin. „Die Kiste hat einen überdurchschnittlichen Stellenwert in der Familie eingenommen während dieser Zeit, obwohl sie eigentlich ein einfaches Alltagsobjekt ist“, sagt Schlegelmilch. Beleuchten könnte man hier zum Beispiel auch, wie es dementen Menschen in Seniorenheimen erging.

Eine Mutter schickte der Sammlungsbeauftragten ein Notenblatt der Bayernhymne und erzählte: Sie sei mit ihrem Sohn zuhause gewesen. Er sei Autist und brauche eigentlich einen immer gleich getakteten Tag. Den ganzen Tag daheim fiel die Struktur weg. Jeden Tag um 17 Uhr spielte aber ein Radiosender die Bayernhymne und forderte auf, für Pflegekräfte zu applaudieren. Für den Jungen wurde dies zum Strukturelement: Täglich standen Mutter und Sohn um 17 Uhr mit Musikinstrumenten und Radio auf dem balkon und spielten die Bayernhymne.

Zeitzeugen gesucht
Für die Medizinhistorischen Sammlungen sucht die Universität Würzburg weitere „Covid-19-Objekte”, diese können – abgedichtet in Plastik verpackt – am Institut für Geschichte der Medizin, Oberer Neubergweg 10a in 97074 Würzburg abgegeben werden.

Wer sein „Corona-Objekt“ behalten will, kann stattdessen auch ein Foto schicken an sabine.schlegelmilch@uni-wuerzburg.de: versehen mit Datum, Aufnahmeort und einer Erklärung des dokumentierten Gegenstands.

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