Das Natur – Defizit – Syndrom

Wie Technik und Urbanisierung zu krankmachender Entfremdung führen

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Leben vollzieht sich in natürlichen Rhythmen. Manche sind spürbar. Man denke an den Lauf der Sonne oder an den des Mondes. Andere merken wir nicht. Im Rhythmus der Natur zu leben, gelingt immer weniger Menschen. Oft werden die natürlichen Rhythmen komplett ignoriert. Forscher haben dafür
einen eigenen Ausdruck entwickelt: Natur-Defizit-Syndrom nennen sie die krank machende Entfremdung von der Natur.

Dieses Phänomen tritt vor allem in der westlichen Welt immer häufiger auf. Auch Maria Koschnick beobachtet dies. „Die Menschen entfremden sich von der Natur, weil sie die Welt um sich herum nicht mehr als etwas Lebendiges ansehen“, sagt die 66-jährige Masseurin aus Würzburg. Das abstrakte Denken greife um sich: „Die Umwelt und die Lebewesen, einschließlich wir Menschen, werden immer weniger als regenerierbar und in Entwicklung befindlich wahrgenommen.“

Der Mensch werde vielmehr oft als eine „Maschine“ betrachtet, die funktioniert sie nicht mehr gut, nur repariert werden müsse, damit wieder alles in Ordnung sei. Maria Koschnick engagiert sich im anthroposophisch ausgerichteten Matthias-Grünewald-Therapeutikum Würzburg. Hier bietet sie einmal im Monat „Imaginative Beobachtungen in der Natur“ an. Mit der sogenannten „Bildekräfte-Forschung“ versuchen die Teilnehmer, den lebendigen Kräften in der Natur zu begegnen. Durch Rhythmische Massage nach Ita Wegmann versucht Koschnick Patienten zu helfen, ihre Selbstregulationskräfte zu stärken.

Für Koschnick ist die Entwicklung weg von der Natur äußerst bedenklich. Tiere und Pflanzen würden mittlerweile immer häufiger digital betreut. Sie bekämen dadurch exakt soviel an Wasser oder Futter wie unbedingt nötig, um Kosten zu sparen. „Bei Ereignissen, die der Mensch nicht lenken kann, wird die Natur sofort als Bedrohung erlebt“, so die Heilberuflerin. Ebenso sei es mit dem eigenen Körper: „Was nicht mehr ‚funktioniert’, soll ausgetauscht werden.“

Ein nicht ganz so düsteres Bild zeichnet Klaus Isberner vom Bund Naturschutz in Würzburg. Immer mehr Menschen bemühen sich nach seinen Beobachtungen, die Entfremdung zur Natur zu überwinden. „Wir selbst raten allen, die in ihrem Beruf keine Natur wahrnehmen, in der Freizeit möglichst viel zu wandern oder sich einen naturnahen Garten anzulegen“, so der BN-Bildungsreferent.

Bereits 2005 appellierte der US-amerikanische Sachbuchautor und Journalist Richard Louv in seinem Buch „Last Child in the Woods“, Kinder vor dem Natur-Defizit-Syndrom zu bewahren. Louv zufolge bräuchten alle Menschen, besonders aber Kinder die Natur. So habe das Erklettern von Bäumen eine stressabbauende Wirkung. Überhaupt sei das freie Spiel in der Natur durch nichts zu ersetzen. Selbst das wöchentliche Fußballtraining im organisierten Sport habe laut Louv bei Weitem nicht die förderlichen Aspekte des freien Draußenspiels mit seiner Vielfalt an Bewegungsmöglichkeiten und Sinneswahrnehmungen.

Mitten in der Natur leben zu können und die natürlichen Rhythmen hautnah mitzubekommen, das ist heute immer weniger Menschen vergönnt.

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