Bis wohin geht Leben?

Dr. Rainer Schäfer und PD Dr. Jan Stumpner über Entscheidungen am Lebensende und Grenzen, die nicht klar zu ziehen sind

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©Klinikum Würzburg Mitte

„Die Mehrheit der Menschen in Deutschland wünscht sich eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Sterben.“ Das ist das Ergebnis einer Umfrage des Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verbandes (DHPV)1 aus dem Jahr 2017. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, dass sich die Gesellschaft mit dem Thema Sterben zu wenig befasst. Bis wohin geht Leben, wann fängt Sterben an? Dr. Rainer Schäfer, Ärztlicher Kurator des Palliativ- und Hospizzentrums der Stiftung Juliusspital Würzburg, und PD Dr. Jan Stumpner, Chefarzt der Klinik für Anästhesie, operative Intensiv- und Palliativmedizin am Klinikum Würzburg Mitte, Standort Juliusspital, müssen sich in ihrem Arbeitsalltag in der Anästhesie, der Intensiv- und Palliativmedizin immer wieder mit nicht klar zu definierenden Grenzen auseinandersetzen. Eine Herausforderung? Der langjährige Chefarzt Dr. Schäfer kam vor rund 40 Jahren zu seinem Fach. „Mich hat damals die Technik fasziniert. Es war der Beginn der Intensivmedizin. Der große Aufschwung – mit vielen neuen Chancen und ­Möglichkeiten“, erinnert er sich. Sein Nachfolger PD Dr. Stumpner kam über die Tätigkeit im Rettungsdienst zur Medizin. Für den heutigen Facharzt für Anästhesiologie mit der Zusatzbezeichnung Intensivmedizin und Notfallmedizin spielte damals, neben dem Faszinosum „Technik“, die Kombination aus praktischer Tätigkeit und notwendigem Wissen über physiologische Zusammenhänge eine große Rolle für seine Berufswahl. „Heute sind wir an einem Punkt, an dem das medizinisch Mögliche weiter ist als es oft sinnvoll erscheint“, so der Arzt. Das ist Fluch und Segen zugleich. „Ein entscheidender Faktor ist der Patient:innenwille. Möchte er:sie diese Technik für sich eingesetzt haben – mit allen Konsequenzen?“, betont Dr. Schäfer. „Der zweite Faktor ist das medizinisch Sinnvolle.“ Mediziner:innen könnten Leben über Wochen und Monate technisch erhalten. Doch das sei dem erfahrenen Mediziner:innen zufolge nicht der Punkt. Im Fokus sollte stehen: „Ist das ein sinnhaftes Leben? Hat der Mensch noch Lebensqualität? Ist er lebensfähig außerhalb der Intensivstation?“

©Jan Kittel

Sei das nicht gegeben, würde man versuchen, eine rote Linie zu ziehen. „Das ist eine der schwierigsten Aufgaben in der Medizin“, betont Dr. Schäfer und PD Dr. Stumpner ergänzt: „Solche Entscheidungen machen wir uns nie leicht. Diese werden auch nicht im Alleingang, sondern im Team mit allen Beteiligten getroffen.“ Einzelne, definierte Werte, bestimmte, messbare Anhaltspunkte, die eine Entscheidung („Point of no Return“) festmachen – die gebe es nicht, da sind sich beide einig. Oft würden „nicht objektivierbare Parameter“ hineinspielen, so PD Dr. Stumpner. Dabei gehe es zum Beispiel um die regelmäßige Evaluation eines Zustands über mehrere Tage oder die Frage, ob die gesteckten Ziele noch realistisch, dem Patient:innenwillen entsprechend erreichbar seien. „Es
 ist ein Prozess“, stellt Dr. Schäfer heraus. „Es gehört viel Erfahrung aller beteiligten Berufsgruppen dazu, die man hier einbringt.“ Insbesondere auf ihrer Intensivstation sehen sie viele verschiedene Krankheitsbilder, dazu gehören Organfunktionsstörungen, Blutvergiftungen, Lungenentzündungen und akutes Lungenversagen, Entzündungen nach Operationen. „Hier gibt es Unterschiede in der Einschätzung der Sterblichkeit. Doch Statistiken helfen im Einzelfall wenig weiter“, betont PD Dr. Stumpner. „Durch die gegebenen Medikamente durchlaufen die Patient:innen den Sterbeprozess nicht natürlich“, so der Facharzt. Weshalb auf indirekte Indikatoren geachtet werden müsse. Setze das Sterben natürlich ein, gebe es „typische Veränderungen“ wie zunehmende Bewusstseinseintrübung, versiegendes Durst- und Hungergefühl, Atemmusterveränderungen und -störungen (Rasselatmung). „Die Pflegenden berichten zudem von Verfärbungen im Nasen- und Mundbereich, dem Einfallen des Gesichts sowie einer abnehmenden Durchblutung in Händen und Füßen“, sagt Dr. Schäfer. „Auch das ist ein Prozess über Tage. Man entwickelt ein Gespür dafür“, erklärt PD Dr. Stumpner. Die beiden Ärzte erleben die Patient:innen und auch deren Angehörige an einer existenziellen Weggabelung. „Es gibt zwei Pole, die immer vorhanden sind“, erklärt Dr. Schäfer. „Angst auf der einen Seite und Hoffnung auf der anderen. Dazwischen schwankt das Gefühl – sowohl der Patient:innen, wenn sie dazu in der Lage sind, als auch der Angehörigen.“ Laut PD Dr. Stumpner seien in dieser Zeit vor allem eine offene und ehrliche Kommunikation sowie Empathie wichtig. „Es ist entscheidend, wie man alle auf diesen Weg mitnimmt.“ Der Beruf hat die beiden Ärzte nicht zu „Maschinen“ gemacht. Sie sind nach wie vor Menschen mit den gleichen Ängsten und Hoffnungen wie ihre Patient:innen und deren Angehörige. Eines, so sagt Dr. Schäfer, habe sich durch seinen Beruf auch für ihn maßgeblich verändert. „Meine Einstellung dem Leben gegenüber ist eine andere geworden. Ich bin gelassener und rege mich nicht mehr über Kleinigkeiten auf.“ Und natürlich sei eine „professionelle Distanz“ im Beruf wichtig, um die Arbeit gut machen zu können, ergänzt PD Dr. Stumpner, „Empathie aber auch!“

Quelle: 1 https://www.dhpv.de/forschung/sterben-in-deutschland_wissen-und-einstellungen-zum-sterben_2017.html

www.kwm-juliusspital.de

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