An jedem Zahn hängt ein ganzer Mensch

Heilpraktikerin Angelika Gräfin Wolffskeel von Reichenberg und Zahnärztin Dr. Sabine Diedrich über Mundgesundheit

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„Mund- und Zahngesundheit sind in jedem Alter wichtig“, so das Robert Koch Institut (RKI)1. Das frühzeitige Erkennen und Therapieren oraler Erkrankungen trage wesentlich zum Erhalt der Funktionsfähigkeit und zur mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität bei. „Nicht zuletzt sind Prävention und Frühbehandlung auch deshalb wichtig, weil die Mundgesundheit in enger Wechselwirkung mit der allgemeinen Gesundheit steht.“ Frei nach dem Motto „An jedem Zahn hängt ein ganzer Mensch“. Im Lebenslinie-Interview mit Heilpraktikerin Angelika Gräfin von Wolffskeel von Reichenberg und Zahnärztin Dr. Sabine Diedrich fühlen wir den Zähnen auf den Zahn … „Es ist wichtig, Zähne als Organ zu verstehen“, erklärt Heilpraktikerin Gräfin Wolffskeel, die seit mehr als 25 Jahren ihre Praxis in Großrinderfeld betreibt. Sie betont: „70 bis 80 Prozent aller chronischen Erkrankungen haben ihren Ursprung oder einen Bezug zur Mundhöhle.“ Die Ursache von Magen-Darm- oder Herz-Kreislauf-Beschwerden, Rheuma, Migräne, Nasennebenhöhlen- oder Augenleiden, Allergien, aber auch Empfängnis-Störungen oder nervöse Krankheiten „fußen oft auf einem entzündeten oder kranken Zahn, einer Zahnfüllung aus Amalgam oder ergeben sich durch Rückstände früherer Zahnbehandlungen.“ Als Heilpraktikerin übt sie keine Zahnheilkunde aus, hat aber den Zahnstatus bei ihren Konsultationen im Blick – unter anderem durch die Abfrage bestimmter Blutparameter, die in einem spezialisierten Labor untersucht werden. Gesundheit fängt also bei der Mundflora an. Zu dieser zählen sämtliche Mikroorganismen, die sich natürlicherweise im Mundraum befinden, vor allem eine Vielzahl unterschiedlicher Bakterienstämme, die sich in einer gesunden Mundflora im Gleichgewicht befinden. Und wie stärkt man diese und hält sie gesund? Mehrere Faktoren spielen hier eine Rolle – von Ernährung bis hin zur Organisation des Badezimmers: „Die Nahrungskette sollte naturbelassen sein. Insbesondere brauchen wir frisch Gekochtes und Bitterstoffe“, appelliert Gräfin Wolffskeel an eine ausgewogene, zuckerreduzierte Ernährung. „Kinder sollten keine Quetschies bekommen. Überhaupt sind zu viel Obst, Obstsäfte und Früchte-Tees kontraproduktiv. Sie säuern, verändern das Milieu im Mund und greifen den Zahnschmelz an.“ Ihre Faustregel: „Ein Drittel Säuren, zwei Drittel Basen.“ Darüber hinaus sollte auf eine gesunde Darmflora geachtet werden, denn dann sei auch die Mundflora in Ordnung. Wichtig zudem: Das regelmäßige Wechseln der Zahnbürste. Von der gemeinsamen Aufbewahrung mehrerer Zahnbürsten, was eine „Bakterien-Wanderschaft“ begünstigt, rät die Heilpraktikerin ab. „Jeder von uns hat eine andere Mundflora.“ Ganz wesentlich: „Bitte den Toilettendeckel vor dem Spülen schließen. Andernfalls verteilen sich die Fäkalkeime im Raum.“ Das erste Zähneputzen des Tages sollte vor dem Frühstück stattfinden, um die Rückstände der Nacht, die aus dem Darm nach oben wandern, zu beseitigen. Was viele nicht wissen: „Die Mundflora prägt sich schon sehr früh aus, nämlich schon in der Schwangerschaft, ebenso bei einer natürlichen Geburt und natürlich, wenn die Mutter das Kind stillt“, sagt Gräfin Wolffskeel. Ihr unermüdlicher Appell in diesem Zusammenhang: „Bitte keine Schnuller in den Erwachsenenmund und später: Jeder hat sein eigenes Geschirr.“  Zahnärztin und Heilpraktikerin Dr. Sabine Diedrich verfolgt in ihrer Praxis in der Würzburger Altstadt ebenfalls einen ganzheitlichen Ansatz. Sie bestätigt die Herangehensweise von Gräfin Wolffskeel und erlebt die geschilderten komplexen Zusammenhänge tagtäglich. Der Medizinerin zufolge gibt es in puncto ganzheitlicher Mundgesundheit drei „große Baustellen“, die sich auf den gesamten Körper auswirken können: Parodontitis, Fremdmaterialien in der Mundhöhle und Infektionen aus wurzelbehandelten Zähnen. „Bei Menschen ab 40 ist die Parodontitis die häufigste Ursache für einen Zahnverlust. Oft wird die Erkrankung nicht erkannt. Unter anderem, weil das Bewusstsein der Patient:innen für die Prophylaxe fehlt“, mahnt die Ärztin. Parodontitis könne für „viele schwere Erkrankungen, wie etwa Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, einen Myokardinfarkt, aber auch den Schlaganfall verantwortlich“ sein. Auch Gelenk- und Atemwegserkrankungen υ
υ seien oft damit vergesellschaftet. „Sogar zu Alzheimer hat man Verbindungen entdeckt“, sagt Dr. ­Diedrich. „Bei Frauen ist zudem das Risiko einer Frühgeburt erhöht, wenn eine Parodontitis besteht.“ Beim Versuch, die Bakterien und ihre Stoffwechselprodukte zu eliminieren, werden je nach erblicher Veranlagung zum Teil heftige Immun-Reaktionen hervorgerufen, die zum Abbau des körpereigenen Gewebes und des Kieferknochens führen. Außerdem können Bakterien vom Mund aus in den Körper eindringen und „ihre Spuren hinterlassen“. (Das erkläre auch, warum Dialyse- und Tumorpatient:innen sowie Patient:innen mit künstlichen Gelenken auf eine gute Mundgesundheit achten sollten.) „Patient:innen mit Parodontitis müssen daher nachhaltig und prophylaktisch am Thema Mundhygiene und an regelmäßiger professioneller Zahnreinigung respektive unterstützender Parodontitistherapie dranbleiben!“ Auf natürlichem Wege lässt sich die parodontale Situation sehr gut durch eine Ernährungsumstellung, die Stärkung des Immunsystems durch Vitamine, Mineralien, Omega-3-Fettsäuren und eine Darmsanierung, aber auch lokal durch Ölziehen und gute Mundbakterien unterstützen. Zahnmaterialien, wie Amalgam, Metalllegierungen oder in manchen Fällen auch Kunststoffen könnten ebenfalls gesundheitliche Probleme machen. Je nach Verarbeitung der Legierung käme es zu Korrosionen, bei der Metall-Ionen freigesetzt und über den Magen-Darm-Trakt wieder aufgenommen würden. Das könne unter anderem die Darmschleimhaut schädigen. „Problematisch ist insbesondere Amalgam. Hier wird Quecksilber freigesetzt und im Körper gespeichert“, erklärt Dr. Diedrich. Kein Wunder, dass die EU-Kommission schon im Juli 2023 beschlossen hat, dass der Einsatz von Zahn-Amalgam ab dem 1. Januar 2025 in der Europäischen Union nicht mehr erlaubt ist2. Die Zahnärztin sieht außerdem Wurzelbehandlungen kritisch. „Sie sind aus ganzheitlicher Sicht ungünstig. Allerdings müssen die Wünsche der Patient:innen immer im Vordergrund stehen“, sagt sie, gibt aber zu bedenken: „Dabei kann es passieren, dass abgestorbenes Gewebe zurückbleibt. Der Zahn kann dann ein Störfeld für den Körper darstellen.“ Geprüft werden könne das via Bluttest, ebenso, ob sich bereits eine Entzündung im Knochen befinde. Und wie wirkt sich die Mundgesundheit auf chronische Erkrankungen aus? „Es gibt viele Faktoren, die hier subsumieren“, sagt Dr. Diedrich und nennt exemplarisch Ernährung, Stress, Umweltgifte, eine Dysbiose im Darm, Allergien, erbliche Veranlagung, aber eben auch die Zähne. „Irgendwann ist das Maß voll.“ Auch in diesen Fällen sei es wichtig, ganzheitlich vorzugehen und alle Behandelnden mit ins Boot zu holen. „Wir müssen gemeinsam über den Tellerrand hinausschauen.“

Quellen: 1www.rki.de/DE/Content/GesundAZ/M/Mundgesundheit/Mundgesundheit_inhalt.html; 2germany.representation.ec.europa.eu/news/giftiges-quecksilber-eu-kommission-verbietet-verwendung-von-zahn-amalgam-ab-2025-2023-07-14_de

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