Alles hängt mit allem zusammen

Theologe Dr. Wolfgang Schuhmacher über das Welt- und Menschenbild der Universalgelehrten Hildegard von Bingen

0

„Eure Lebensmittel sollen Eure Heilmittel und Eure Heilmittel sollen Eure Lebensmittel sein“, war einer der Leitgedanken Hildegard von Bingens. Bereits in ihren Schriften zwischen 1150 und 1160 warb die Universalgelehrte für Dinkel als Universal-Heilmittel bei Krankheit und als Prophylaxe zur Erhaltung von Gesundheit. 900 Jahre später erlebt die Urgetreideart eine Renaissance. Von 2016 bis 2020 hat sich laut der Bundesanstalt für Ernährung und Umwelt der Dinkelkonsum hierzulande verdoppelt. Und der Aufwärtstrend der Spelzgetreideart, die gegenüber Weizen mit einem höheren Anteil an Eiweiß, Magnesium, Kalium, Eisen und Zink punktet, hält an1. Ebenso lag sie etwa mit ihren Empfehlungen von Galgant für Menschen mit Herzproblemen und Mariendistel für Lebergeschädigte richtig. Mit einem ausgewiesenen Hildegard-von-Bingen-Experten, dem Theologen Dr. Schuhmacher, wollen wir uns in dieser und der nächsten Ausgabe der Lebenslinie über die Klostermedizinerin und Kirchlehrerin unterhalten, die Papst Benedikt XVI 2012 heiliggesprochen und die von Papst Franziskus 2021 einen eigenen Gedenktag, ihren Todestag am 17. September, im weltweiten liturgischen Kalender der römisch-katholischen Kirche bekommen hat. Was war das für eine Frau, die im tiefsten Mittelalter eigene Ansichten über die Entstehung von Krankheiten entwickelte und Wissen über Pflanzen und Krankheiten aus der griechisch-lateinischen Tradition mit der Volksmedizin zusammenbrachte? Was trieb sie an? Wie sah ihr Welt- und Menschenbild aus? Und warum gibt es auch heute noch so viele Befürworter:innen der „Hildegard-Medizin“?  „Hildegard von Bingen hatte ein ganzheitliches Weltbild. Der Kosmos ist Schöpfung Gottes. Durch das göttliche Wirken steht alles, was ist, in einem engen Zusammenhang und wirkt auf das andere ein. Nach Hildegard geschieht nichts, was nicht auch Auswirkungen auf alles andere in der Welt hat“, so der Kirchenmann Schuhmacher. Sie hatte die Vorstellung eines imaginären Weltnetzes: „Alles hält einander, berührt einander, korrespondiert auch mit den kosmischen Kräften und hat eine unerlässliche Funktion … im Makro- wie im Mikrokosmos. Hildegard zufolge umfasst der Makrokosmos die gesamte Schöpfung Gottes, während der Mensch den Mikrokosmos bildet, in dem der gesamte Makrokosmos abgebildet ist“, so der gebürtige Saarländer, der sich seit über 30 Jahren mit der deutschen Mystikerin beschäftigt. Hildegard von Bingens Sicht der Dinge fußte auf einem insgesamt sehr positiven Welt- und Menschenbild. „Trotz seiner Schwächen infolge des Sündenfalls nimmt Hildegard den Menschen in seiner Stärke war, die er von Gott bekommen hat und benennt ihn als ,cooperator dei‘, als Mitarbeiter:in Gottes“, so Dr. Schuhmacher.  35 Tugenden, die sie Gotteskräfte nennt (virtutes), stehen 35 Lastern (vitia) entgegen. Und der Mensch befinde sich hier im ständigen Kampf. „Heute würde man Hildegard von Bingen vielleicht als eine kluge Sozialethikerin bezeichnen“, meint der Leiter der Evangelischen Tagungsstätte Wildbad Rothenburg. Die Natur- und Heilkunde der Hildegard von Bingen hätte keinerlei Behandlungsmethoden oder Heiltechniken im modernen Sinne überliefert, wohl aber ein Bild des gesunden und des kranken Menschen, konkrete Wege zu einer gesunden Lebensordnung und -führung sowie die Kunde von der Heilung des Menschen, so der Theologe. Was heute wieder zunehmend in den Blick von guter Medizin gerät, verfolgte die Gelehrte bereits im Mittelalter, nämlich einen ganzheitlichen Blick auf den Menschen. Körper, Geist und Seele waren für sie eine Einheit. Alle drei müssen in Balance sein, wenn der Mensch nicht krank werden soll. „Wenn der Mensch also in Dysbalance ist, bedeutet Heilung, einen Prozess anzustoßen, der Tun und Lassen mit im Blick hat. Das tun, was förderlich ist, und das lassen, was schadet. Dieser Prozess gestaltet sich bei Hildegard immer im Kontext von Tugenden und Lastern und innerer Hinwendung zu Gott. Heilen bedeutet ihr zufolge also:  Das tun und lassen, was dem ganzen Menschen dient (und sich Gott zuwenden)“, erklärt Dr. Schuhmacher. Was das konkret für die Auswahl bestimmter Lebensmittel zugunsten eines gesunden Lebensstils bedeutet, erläutern wir zusammen mit unserem Hildegard-von-Bingen-Experten in der Oktoberausgabe der Lebenslinie.  

Quelle: 1www.ble.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/200604_Dinkelmehl.html

Wer mehr über Hildegard von Bingen erfahren möchte: Vom 4. bis zum 7. Mai findet im Wildbad in Rothenburg die Tagung statt: „Ganzheitlich leben mit Hildegard von Bingen”. Weitere Infos unter: www.wildbad.de/spirituelle-angebote.

Share.