Wer krank ist, braucht nicht nur Arznei. Ein kranker Mensch hat auch soziale und emotionale Bedürfnisse. Werden die befriedigt, können Heilungsprozesse unterstützt werden. Diese Überzeugung steckt hinter dem allgemeinmedizinischen Konzept „Social Prescribing“: Medizinische Behandlungen werden dabei durch soziale Kontakte und Aktivitäten ergänzt. Allgemeinärzt:innen „verschreiben“ also Maßnahmen, die das soziale Miteinander fördern. Dr. Anne Simmenroth und Dr. Ildikó Gágyor, die Direktorinnen des Instituts für Allgemeinmedizin an der Universität Würzburg, halten das Thema „für relevant und zu wenig untersucht“. Einsamkeit, sagen sie, scheine ein Risikofaktor für psychische Erkrankungen zu sein.
Ob jemand einsam ist oder nicht, könne sich auf den Prozess der Heilung auswirken. „Deutschland hat zwar ein hochdifferenziertes und teures Gesundheitssystem, aber es gibt Bevölkerungsgruppen, die nur einen begrenzten Zugang dazu haben und deren primäres Problem Isolation und Einsamkeit ist“, sagt Dr. Simmenroth. Die Professorin denkt an alleinstehende Senior:innen sowie an Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Aber auch suchtkranke Personen, alleinerziehende Mütter, die unter dem Existenzminimum leben, oder Zuwander:innen mit schlechten Sprachkenntnissen sind von Ausgrenzung bedroht. „Wenn wir diesen Gruppen Integration oder soziale Einbindung verschreiben könnten, wäre das sehr gut“, ergänzt ihre Kollegin Dr. Gágyor. Allerdings müssten zuvor die entsprechenden Strukturen geschaffen werden. So stellt sich der Professorin zufolge die Frage, welche Berufsgruppen die Betreuung übernehmen oder ehrenamtliche Aktivitäten wie zum Beispiel Nachbarschaftshilfen koordinieren könnten. Auch die Frage, wer die Kosten trägt, sei offen. Die beiden Medizinerinnen verweisen auf ihren Kollegen Professor Wolfram Herrmann, der sich seit 2016 mit seiner Forscher:innengruppe am Institut für Allgemeinmedizin der Charité mit „Social Prescribing“ befasst. Unlängst veröffentlichte er zum Beispiel eine systematische Übersichtsarbeit zu Interventionsstudien mit „Social Prescribing“. Was von Professor Herrmann geleistet wird, ist nach Ansicht der beiden Würzburger Ärztinnen „sowohl wissenschaftlich als auch gesellschaftlich bedeutsam“. In Großbritannien gilt das Konzept „Social Prescribing“ als „Erfolgsmodell“. Dort ist es inzwischen auch flächendeckend im Gesundheitssystem implementiert. Hausärzt:innen, Sozialarbeiter:innen, Gemeindeschwestern oder Krankenpfleger verordnen „Social Prescribing“ zum Beispiel dann, wenn sie einen verzögerten oder ausbleibenden Heilungserfolg bei ihren Patient:innen beobachten. In Unterfranken gibt es bisher kein konkretes Projekt. Die beiden Direktorinnen vom Würzburger Institut für Allgemeinmedizin stehen jedoch mit ihren Berliner Kolleg:innen um Wolfram Herrmann in engem Austausch.