Sonjas stumme Hilfeschreie

Mit der 1999 gegründeten Gruppe „Merlin“ wurde in Würzburg Pionierarbeit geleistet

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In diesem Gemälde erzählt ein Kind aus der von Heike Kaspers geleiteten Wohngruppe „Merlin“ von sich und seinem Traum von einer glücklichen Familie. Foto: EKJH

Noch in den Achtzigerjahren erschien es als undenkbar, dass Pädagogen und Jugendpsychiater miteinander kooperieren. Zu unterschiedlich erschienen die beiden Welten. Das änderte sich in Würzburg, als die Evangelische Kinder- und Jugendhilfe beschloss, sich mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu verzahnen. Aus dieser Kooperation ging 1999 die Wohngruppe „Merlin“ hervor. Das 20-jährige Bestehen der Einrichtung wird am 22. September mit einem Kinderfest gefeiert.

Seelisch kranke Kinder brauchen gute Ärzte, die sie therapieren. Und sie brauchen gute Pädagogen, die ihnen helfen, ihr Leben wieder zu bewältigen, mit anderen Menschen klarzukommen und Freude am Lernen zu entwickeln. Die Kinder, die in die Psychotherapeutische Wohngruppe „Merlin“ kommen, lagen oft lange in der Klinik, weil Ihr Leiden nicht einfach zu behandeln war. Nach dem Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie geht es ihnen zwar gesundheitlich besser. Doch sie stehen oft immer noch vor einem gewaltigen Problemberg. Die familiäre Situation ist schwierig. Freunde gibt es nicht. Die Schule weckt Versagensängste.

Damit sich die Krankheit der Kinder nicht wieder verschlimmert, braucht es nach der Entlassung aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie in vielen Fällen weitere Hilfen – wie zum Beispiel die Wohngruppe „Merlin“. Hierhin kam im Sommer 2016 Sonja, die hochgradig magersüchtig war. „Sie wollte sich aus dem Leben hungern“, sagt „Merlin“-Leiterin Heike Kaspers. Sechs Monate lang wurde das Mädchen in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie therapiert. Danach hatte sie neuen Lebensmut. Doch wie sollte sie leben? Mit dieser Frage zog die damals Zehnjährige in die Wohngruppe „Merlin“ ein.

Sonja hatte sich in ihrer Familie nicht geborgen gefühlt, schildert Heike Kaspers. Ihre Eltern hatten sich viel gezankt. Als sich abzeichnete, dass die Ehe nicht mehr zu kitten war, trennten sie sich. Für die damals Achtjährige hieß dies, fortan ständig zu pendeln. Am Wochenende war Sonja oft bei Papa. Unter der Woche bei Mama. Ihre Eltern hatten wegen der Trennung genug mit sich zu tun. Sonja hatte das Gefühl, dass sich keiner für sie interessierte. „Ihre stummen Hilfeschreie blieben ungehört“, so Heilpädagogin Kaspers. Dadurch schlidderte das Kind allmählich in eine Magersucht und in eine Depression hinein.

Sonja wollte nicht mehr weiterleben, weil das Gefühl, nicht geliebt zu sein, so schrecklich war. Was das Kind in seiner Familie mitmachte, wurde den Eltern erst klar, als das Mädchen in der Wohngruppe war. Hier wird Elternarbeit großgeschrieben, sagt Kaspers. Sonjas Mama und Sonjas Papa kamen, getrennt voneinander, regelmäßig in die Wohngruppe, um ihre Tochter zu besuchen und um mit dem „Merlin“-Team zu sprechen. Sie entdeckten, was sie, weil sie es nicht besser wussten, mit Sonja falsch gemacht hatten. Und sie lernten, besser mit Sonja, ihren Wünschen nach Aufmerksamkeit und ihrem Bedürfnis nach Liebe umzugehen.

Viele Eltern der „Merlin“-Kinder haben nur geringe psychische Reserven, weil es ihnen selbst nicht gut geht. Auch bei Sonjas Eltern war das so. Sonjas Vater trank viel zu viel. Ihre Mutter hatte psychischer Probleme. Gerade, weil sie ihre Eltern oft als wenig verlässlich erlebt hatte, tat Sonja während ihrer „Merlin“-Zeit die Therapie mit Tieren besonders gut. Auf einen Hund, erlebte das Mädchen, ist immer Verlass. Er ist nicht heute so und morgen so. Sondern immer gleich freundlich.

Wenn Heike Kaspers zurückblick auf 20 Jahre „Merlin“, stellt sie fest: Es war 1999 eine äußerst kluge Entscheidung, Kinder- und Jugendhilfe eng mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu vernetzen. Denn seelisch kranke Kinder brauchen beides. Auch Sonja schätzt es, dass sie in der Gruppe „Merlin“ regelmäßig von einem Konsiliararzt der nahe gelegenen Uni-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie besucht wird. Der Arzt fragt nach, wie es ihr mit der Magersucht geht. Ob sie wieder gern isst. Und er überprüft, ob die Dosis des Antidepressivums, das ihr in der Klinik verordnet wurde, nach wie vor passt.

Auch in den letzten drei Jahren gab es Momente, wo Sonja das Leben als Qual empfand. Es gab Phasen, in denen es mit dem Essen wieder schwieriger wurde. Doch trotz des Auf und Ab fühlte sich das Mädchen von Monat zu Monat besser. Wurde sie anfangs in der Wichern-Schule der EKJH unterrichtet, schaffte sie es letztes Jahr, in eine Regelschule zu wechseln. Im Oktober wird Sonja entlassen. Sie freut sich darauf, wieder heimzukommen. „Aber auch wir verabschieden uns von ihr mit einem guten Gefühl“, so Kaspers.

In der Gruppe „Merlin“ werden bis zu acht Kinder mit Essstörungen, ADHS, selbstverletzendem Verhalten, Zwängen, Ängsten, Autismus und Tics behandelt. Die jüngsten sind 5, die ältesten 15 Jahre alt. Alle derzeitigen und ehemaligen „Merlin“-Bewohner, Mitarbeiter und Eltern sind am Sonntag eingeladen, das 20-jährige Bestehen der Wohngruppe zu feiern. Am Montag, den 23. September, findet in der Würzburger Hochschule die Fachtagung „Denn nur zusammen bist du nicht allein… – 20 Jahre Interdisziplinäre Allianz: Das Würzburger Modell“ statt. Dazu werden Experten aus ganz Deutschland erwartet.

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