Zu viele Patienten, zu wenig Beatmungsgeräte: In Italien mussten Ärzte zu Hochzeiten der Pandemie im Frühjahr 2020 bei Covid-19-Patienten entscheiden, wer behandelt wird und wer stirbt. Jeder Einzelfall ist tragisch und für Mediziner eine echte ethische Tragödie. An Deutschland ging der Kelch solcher Triage-Situationen bislang vorüber – und Experten gehen davon aus, dass hierzulande die intensivmedizinische Versorgung aller Patienten gewährleistet bleibt.
Trotzdem steht die Frage im Raum, ob es im Ernstfall so etwas wie die „richtige Entscheidung“ gäbe. Eine spezielle Rechtsgrundlage für Triage-Entscheidungen gibt es nämlich nicht. Sieben deutsche Fachgesellschaften hatten im Frühjahr nun gemeinsam klinisch-ethische Empfehlungen verabschiedet, darauf blickt Professor Eric Hilgendorf, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. „Im Kern geht es darum, dass der Arzt in einer Entscheidungssituation den Patienten mit den besten Heilungschancen auswählen sollte. Das entspricht dem gesunden Menschenverstand. Allerdings ist die Bestimmung ziemlich ungenau“, sagt der Jurist, und stellt Fragen in den Raum: „Sind Heilungschancen gut, wenn jemand mit 90 Prozent Wahrscheinlichkeit überlebt, aber als Folge ein Leben lang schwerste Lungenprobleme haben wird? Ist dies besser, als jemandem mit geringerer Überlebenschance, aber der Aussicht auf hundertprozentige Genesung zu helfen?“
Eine Liste mit Vergleichsfällen hielte Hilgendorf hier für sinnvoll. Dennoch begrüßt er die Empfehlungen, weil sie Ärzten an der Schnittstelle zwischen der juristischen Sphäre und der praktizierenden Medizin eine Handreichung gäben – und auch, um mit angehenden Medizinern vergleichbare Situationen durchzuspielen. Ein anderes ist Professor Dr. Dr. Hilgendorf aber ebenso wichtig: In einem Aufsatz forderte er im Frühjahr die Jurisprudenz deutlich auf, Streitfragen nicht zu Lasten von Medizinern auszutragen. Es gehe in Triage-Situationen um tragische Entscheidungen, bei denen man Ärzten nicht auch noch juristische Schwierigkeiten bereiten sollte, sagt er im Interview. Die Jurisprudenz sollte die Entscheidungen der Mediziner akzeptieren, solange diese einigermaßen vertretbar seien.
Doch wo zieht der Jurist hier die Grenzen? „Nur abwegige Entscheidungen sind definitiv falsch. Wenn zum Beispiel jemand aufgrund seiner Herkunft, der Hautfarbe oder des Geschlechts ausgewählt würde, wäre dies offensichtlich eine absurde Entscheidung. Hierzu zählt auch der Faktor Alter, wenn man – unabhängig von Heilungschancen – nur die Jüngeren, vielleicht mit Vorerkrankung, versorgen und die Älteren, vielleicht im Einzelfall mit besseren Heilungschancen, sterben ließe“, betont Professor Hilgendorf.
Gleichzeitig fordert er, dass die theoretische Diskussion in der Wissenschaft weitergehen müsse, bis vielleicht eines Tages bestimmte Kriterien bei Triage-Entscheidungen so akzeptiert seien, dass man sie zur Grundlage einer gesetzlichen Regelung machen könne.
Professor Eric Hilgendorf möchte den Medizinern, nicht den Juristen die letzte Entscheidung in Sachen Triage überlassen