Krise als neuer Alltag?

Apotheker Dr. Helmut Strohmeier über die Mangellage bei Arzneimitteln

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Lieferengpässe sind mittlerweile Alltag in deutschen Apotheken. Mal sind bestimmte Antibiotika aus, mal ein Fiebersaft für Kinder, mal sind es Krebsarzneien. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte veröffentlich jeden Tag eine Liste mit Medikamenten, die aktuell nicht verfügbar sind. Pandemie und Krieg haben die Situation noch verschärft. Wie derzeit der Status Quo ist, und worauf wir uns noch einstellen müssen, haben wir Apotheker Dr. Helmut Strohmeier gefragt: „Aktuell sind von unseren ständigen Lagermedikamenten über 30 nicht lieferbar (Stand: 1. September). Darunter bekannte Mittel wie Buscopan (krampflösendes Mittel bei Bauchschmerzen), Pantoprazol (Magenschutz), Aspirin complex (Erkältungsmittel) oder monatelang Tamoxifen (Arzneistoff zur Therapie von Brustkrebs).“

Durch die drohende Gasmangellage im Herbst und Winter werde sich die Situation noch verschärfen, da gerade die Pharmaproduktion auf den Rohstoff „Gas“ angewiesen sei. Dr. Strohmeier prognostiziert, dass es in den kommenden Monaten schwierig werde, Schmerzmittel wie Paracetamol oder Ibuprofen herbeizuschaffen, da die Jahresproduktion für diese Arzneien längst abgeschlossen und die Vorräte überall nahezu aufgebraucht seien, nicht zuletzt wegen der unvorhersehbaren Hilfslieferungen in die Ukraine. „Es ist eigentlich eine Katastrophe“, sagt Strohmeier, „aber eine selbst verschuldete: Die Produktion von Arzneien für unseren Markt findet hauptsächlich in Billiglohnländern wie China und Indien statt.“ Selbst aus der bereits eingetretenen Mangellage an Arzneien, Masken und Desinfektionsmitteln während der Corona-Pandemie habe man bis dato keine Konsequenzen gezogen und einen Teil der Arzneimittelproduktion wieder ins Inland oder zumindest in die EU verlagert.

Wird also Mangellage und Krise unser neuer Alltag sein? Der Fachapotheker sagt: „Ja! Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass nicht jederzeit alles verfügbar ist, ob das Strom, Gas, Lebensmittel oder Arzneimittel sind.“ Eigentlich sind Apotheken gesetzlich dazu verpflichtet bestimmte Standardarzneien für sieben Tage vorzuhalten, damit die Versorgungssicherheit der Bevölkerung gewährleistet ist. „Auch dieses Postulat können Apotheken hierzulande aufgrund von Lieferengpässen gerade nicht erfüllen“, berichtet Dr. Strohmeier. Und es geht noch weiter: Die Lieferengpässe betreffen ja nicht nur Arzneien, sondern den kompletten Gesundheitssektor, etwa Halbleiter für Schrittmacher, Infusionspumpen, Dialysegeräte oder Defibrillatoren. Die gesamte Branche des medizintechnischen Sektors schlägt Alarm. „Wir haben es uns in der Wohlstandsgesellschaft bequem gemacht“, so Strohmeier, „und nun müssen wir unsere Komfortzonen verlassen.“

Was dabei zumutbarer und unzumutbarer Verzicht ist, sei individuell ganz verschieden. Der Mangel an regelmäßig einzunehmenden Medikamenten gehöre auf jeden Fall in die letztere Kategorie, so der Oberstabsapotheker der Reserve bei der Bundeswehr. Sicher gebe es Menschen, bei denen bereits ohne weitere Teuerungsraten Ende der Fahnenstange ist, die müsse man im Blick haben, so Dr. Strohmeier. Aber für eine Vielzahl von Menschen in Deutschland sei unfreiwilliger Verzicht bisher ein Fremdwort gewesen, diese stünden nun wie das Kaninchen vor der Schlange, weil nicht mehr alles ­jederzeit verfügbar sei. Dennoch helfe es nicht, den Kopf in den Sand zu stecken, und stündlich Nachrichten zu hören, das schade der Gesundheit, vor allem der psychischen. Dr. Strohmeier rät: „Kleine Inseln im Alltag schaffen und glücklich sein, dass wir nicht in einem Land leben, in dem gerade der Krieg tobt!“

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