Jenseits der roten Linie

Palliativmediziner Dr. Heribert Joha über Möglichkeiten und Grenzen am Lebensende

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„Ich mache meine Arbeit gerne, obwohl sie mich auch belastet. Es gibt Phasen, in denen werde ich dünnhäutig … da merke ich, das sind jetzt Anforderungen, die verfolgen mich auch, wenn ich nach Hause gehe.
Manches geht mir schon sehr nah“, erzählt der Palliativmediziner Dr. Joha. Foto: Susanna Khoury

„Tod ist für mich ein Wechsel in eine andere Seiensform. Ich glaube daran, dass nichts wirklich verloren geht, dass eine Art Kraft oder Energie eines Menschen über den Tod hinaus bestehen bleibt“, sagt Dr. Heribert Joha, Palliativmediziner im Juliusspital Würzburg (Klinikum Würzburg Mitte).

Je länger er als Mediziner tätig sei, so der Anästhesist, der 23 Jahre lang als Notarzt unterwegs war, desto bewusster werde ihm: „Dieser naturwissenschaftliche Ansatz, den die Medizin so betont, ist nur ein kleiner Teil dessen, was Menschsein ausmacht!“

Es gäbe viele Bereiche, die man einfach nicht greifen kann. Das bestätige ihm die Existenz eines metaphysischen Elements. „Täglich haben wir spirituelle Erlebnisse, wenn wir etwa ein Musikstück hören oder sehr berührt sind von einem Naturerlebnis oder von einem Menschen. In diesen Momenten merke ich, dass wir alle nur Bestandteil eines großen Ganzen sind, zu dem wir zurückkehren!“

Carpe Diem

Die zwei Palliativstationen des Juliusspitals haben insgesamt 15 Plätze. Im letzten Jahr sind dort rund 450 austherapierte Schwerstkranke unter palliativmedizinischen und –pflegerischen Gesichtspunkten betreut worden. In vielen intensiven Gesprächen mit den Sterbenden und deren Angehörigen hat der 55-jährige Oberarzt Joha in all der Zeit eine Ahnung davon bekommen, was am Lebensende wirklich schmerzt. „Es sind Kontaktabbrüche, ungeklärte Situationen, Streit in der Familie, die mit am meisten belasten, wenn sie bis zum Lebensende nicht ausgeräumt werden konnten!“

Eine tiefe Verletzung sei für viele auch die Tatsache mit 40, 45 oder 50 Jahren einer tödlichen Krankheit zu erliegen, wo die Heilversprechen der modernen Medizin doch ein Leben bis hoch in die 80er suggerieren. Daraus ergibt sich das Fazit, nichts auf später zu verschieben, sein Leben im Hier und Jetzt zu leben. Frei nach dem Motto des irischen Schriftsellers Oscar Wilde: „Versuchungen sollte man nachgeben, wer weiß, wann sie wiederkommen!“

„Carpe Diem!“ – auch die Schlusszeile der um 23 vor Christus entstandenen Ode „An Leukonoë“ des römischen Dichters Horaz fordert auf, die knapp bemessene Lebenszeit heute zu genießen und nicht immer alles auf morgen zu vertagen („Carpe Diem!“ aus dem Lateinischen „Pflücke den Tag!“ oder „Genieße den Tag!“). Das heiße aber nicht, so Dr. Joha, dass man alle fünf Kontinente auf einmal bereisen sollte.

Das sei auch so eine „Last“ unserer Zeit, dass wir ständig Angst haben, etwas zu verpassen – vor lauter multimedialer Geschäftigkeit vor allem in so genannten sozialen Netzwerken womöglich gar das echte Leben.

Im Tod mit dem Leben versöhnt

Ganz nah dran am echten Leben ist der Palliativmediziner, wenn er Menschen am Lebensende Erleichterung und dadurch noch Lebensqualität verschaffen kann, indem er Schmerzen lindert, aber auch Sprachlosigkeit oder Spannungen innerhalb der Familie auflösen kann. Er fühle sich nicht auf verlorenem Posten in seinem Job, auch wenn man den Menschen letztendlich durch den Tod verliert, habe seine Arbeit dennoch etwas durch und durch Befriedigendes.

„Wenn man merkt, dass sich sowohl die Patienten als auch deren Angehörige aufgefangen fühlen und mit Vielem versöhnt sind, je länger die Scheidenden ‚auf Palliativ‘ liegen – dann sind das schon Erfolgsgeschichten, wenn auch nicht im herkömmlichen Sinne“, resümiert der reflektierte und empathische Mediziner. Die Palliativmedizin sei lange Zeit in die Ecke geschoben worden, da Mediziner ja angetreten sind, Leben zu erhalten, da habe „das beim Sterben helfen“ nicht ins Konzept gepasst.

Doch seit einiger Zeit besinne man sich wieder auf den Artikel 1 des Grundgesetzes des Bundesrepublik Deutschland, in dem steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Würdevolles Sterben zu ermöglichen, so sieht Joha die Aufgabe der Palliativmedizin. Wenn es aufs Lebensende zugehe, sei das Ziel, dass der Tod für den Sterbenden seinen Schrecken verliere, dass er – wenn möglich – versöhnt gehen könne und vor allem ohne Schmerzen, so der Oberarzt der Abteilung Anästhesie, Operative Intensivmedizin und Palliativmedizin im Juliusspital.

Tabuthema „Tod“

Foto: ©depositphotos.com/@photographee

Über alles Mögliche machen wir uns tagtäglich Gedanken, nur nicht über das Sterben! Der eigene Tod oder der naher Verwandter ist nach wie vor ein Tabuthema in einer Gesellschaft, die so gut wie keine Tabus mehr kennt. Menschen versuchen häufig ihre Autonomie zu wahren, indem sie beim Notar eine Vorsorgevollmacht oder Patientenverfügung ausfüllen, weil sie selbstbestimmt Sterben wollen. Aber geht das mit ein paar Kreuzchen auf einem wenn auch mehrseitigen Standardfragebogen?

Ich bin der festen Überzeugung: „Nein!“, da ich als Patient, selbst als Journalistin, für den Arzt nie ein Gesprächspartner auf Augenhöhe sein werde, und doch über hochkomplexe medizinische Situationen eine Aussage treffen soll, die mein Leben beenden können … „Hallo?“

„Da legen Sie den Finger in die Wunde. Das ist korrekt. Die jetzigen Patientenverfügungen haben den ganz großen Nachteil, dass sie nur Endzustände benennen. Also in der Beschreibung der Situation, für die sie gelten sollen, taucht der sogenannte unmittelbare Sterbeprozess auf“, weiß Dr. Joha.

Das sei eine Situationsbeschreibung, die man auch weglassen könne, weil es im unmittelbaren Sterbeprozess für die Medizin keinen sinnvollen Auftrag mehr gäbe, lebenserhaltend zu therapieren, abgesehen von der Abklärung für Organspende, also Hirntod-Diagnostik.

„Die zweite häufig dann benannte Situation ist die des Dauerkomas oder der dauerhaften Bewusstseinstrübung. Das kann jedem widerfahren durch schwere Verletzungen nach einem Unfall, Erkrankungen des Gehirns oder etwa einem Schlaganfall“. Dafür sei die Patientenverfügung tauglich, meint der erfahrene Palliativarzt.

„Aber für eine ganz große Gruppe von Patienten sei die Patientenverfügung in der gängigen Form wenig aussagekräftig. Nämlich diejenigen, die zum Beispiel mit einem Schenkelhalsbruch in die Klinik kommen. Und dann gibt es im Verlauf eine Komplikation nach der anderen. Die Patienten werden plötzlich intensivpflichtig, entwickeln beispielsweise ein Nierenversagen, dann wird ein Nierenersatzverfahren (eine Kurzzeitdialyse) eingesetzt, dann kommt möglicherweise eine Lungenentzündung dazu, also es ergibt eine richtige Abwärtstendenz.

Und dann überschreiten wir vielleicht schon für diesen Menschen seine persönliche ‚rote Linie‘ …

Für diesen prozesshaften Verlauf einer Erkrankung bietet eine Patientenverfügung keinerlei Orientierung!“ Da komme aber die Bevollmächtigten-Funktion ins Spiel. „Will heißen, dass sich die bevollmächtigte Person mit dem Arzt nun zusammensetzt und überlegt, wie es weitergehen soll. Dabei zeigt sich, wie schwer dieses Amt ist, weil die bevollmächtigte Person oft überhaupt nicht auf diesen Fall vorbereitet ist.“

Vielfach werden Patientenverfügungen auch in wildem Aktionismus ausgefüllt, weil man eigentlich nicht will, dass am Lebensende alles getan wird, was medizinisch möglich ist, aber andererseits nicht genau weiß, welche Situationen das wirklich betreffen soll. Und dann überlässt man die Entscheidung dem Bevollmächtigen, der meist damit überfordert ist.

Quelle: 1Dame Cicely Saunders (1918-2005) war eine englische Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin. Sie gilt als Begründerin der modernen Hospizbewegung und Palliativmedizin.

Palliativversorgung der Stiftung Juliusspital
Seit 17 Jahren engagiert sich das Juliusspital auf dem Gebiet der Palliativversorgung und ist heute deutschlandweit die einzige Einrichtung, die Palliativstationen im Krankenhaus, einen ambulanten Palliativdienst, ein stationäres Hospiz sowie eine Palliativakademie vorhält. Mit der Ausgliederung des Juliusspital-Krankenhauses erfüllt die Stiftung ihren Auftrag der Krankenversorgung – und damit auch die Palliativversorgung – seit 2017 durch die Klinikum Würzburg Mitte gGmbH (KWM). Das KWM ist ein Klinikum mit zwei Standorten in Würzburg: Juliusspital und Missioklinik. Die Palliativstationen I und II im Juliusspital – mit 15 Betten die größten in Unterfranken – leisten, auf Grundlage der Hospizidee, Schwerstkranken mit unheilbarem Grundleiden unter ganzheitlichen Gesichtspunkten umfassende Hilfe. Zusätzlich betreut das Team der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung Betroffene am Lebensende rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr – in enger Zusammenarbeit mit Hausärzten und Pflegediensten vor Ort. Das im Jahr 2013 in Betrieb genommene stationäre 12-Betten-Hospiz im Würzburger Stadtteil Sanderau vervollständigt das Angebot um die Versorgung schwerstkranker und sterbender Menschen. Spezialwissen zur Palliativmedizin und Erkenntnisse aus ambulanter und stationärer Arbeit werden in der Juliusspital Palliativ-Akademie weitergegeben. Das Angebot richtet sich sowohl an Menschen, die Schwerkranke und Sterbende betreuen, als auch an die interessierte Öffentlichkeit. red

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