Die Fachgesellschaften für klinische Neuropsychologie aus Deutschland, Österreich und der Schweiz luden vom 20. bis zum 22. Oktober 2016 zu einer großen Tagung für neuropsychologisch Tätige im deutschsprachigen Raum nach Würzburg ein. In fast 70 verschiedenen Fachvorträgen, Symposien und Workshops mit namhaften, internationalen Gastrednern tauschten sich mehr als 400 Teilnehmer über die aktuellen Anwendungsgebiete, Testverfahren und Therapiemethoden in ihrem Tätigkeitsbereich aus. Zudem wurde länderübergreifend diskutiert, wie dem Nachwuchsmangel in der Neuropsychologie entgegengewirkt werden könnte. Besonderen Anklang fand das kulturelle Rahmenprogramm der Tagung, für das die Würzburger Diplom-Psychologen Herbert König und Gerhard Müller als Tagungspräsidenten und Organisatoren verantwortlich zeichneten: Neben musikalischen Beiträgen, einer begleitenden Kunstausstellung und spannenden Exkursionen bildete die von Kabarettist Götz Frittrang moderierte Abschlussdiskussion im Stil eines “Science Slams” den unterhaltsamen Höhepunkt.
Den Auftakt der dreitägigen Fachtagung bildeten eine Vorstandssitzung und eine Mitgliederversammlung der Gesellschaft für Neuropsychologie Deutschland (GNP) am Donnerstagvormittag sowie verschiedene Arbeitskreise, unter anderem zur Ambulanten Neuropsychologie, zur Neuropsychologie in der Psychiatrie und zum Thema Aus- und Weiterbildung.
Am Abend folgte der Hauptvortrag im Franconia-Saal des Congress Centrums Würzburg: Prof. Dr. Anke Menzel-Begemann aus Münster referierte vor ca. 250 Teilnehmerinnen und Teilnehmern unter dem Titel “Aktivitätenorientiert vorbereiten auf das, was Betroffene nach der medizinischen Reha erwartet”.
Teilhabeorientierte Diagnostik
Kern des Vortrages von Menzel-Begemann, unter anderem Sprecherin der Arbeitsgruppe “Förderung von Teilhabeforschung” des bundesweiten Aktionsbündnisses Teilhabeforschung, war die sog. ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health): Mithilfe dieses Klassifikationssystems können neuropsychologische Störungen und ihre Auswirkungen auf die Teilhabe des Betroffenen eingeordnet und analysiert werden.
Menzel-Begemann plädierte dafür, nicht die Defizite bei einem Betroffenen in den Fokus zu stellen, sondern seine Fähigkeiten und Ressourcen im Zusammenspiel mit seinen Lebensbedingungen und den konkreten Anforderungen. “Wir sollten bewerten, was der Patient aus eigenem Antrieb tut – nicht, was er tun könnte”, stellte sie fest. Ein Mensch, der aufgrund eines Unfalls oder einer Erkrankung unter Funktionseinschränkungen leide, dürfe darauf nicht reduziert werden. “Im Sinne der ‘Diversität’, also Vielfalt, hat er dennoch einen Wert für die Gesellschaft”, so Menzel-Begemann.
Kosteneffizienz in der klinischen Neuropsychologie
Am Freitag fand der offizielle Festakt zur Eröffnung der Tagung statt, zu der Erwin Dotzel, Bezirkstagspräsident von Unterfranken, ein Grußwort sprach. Darauf folgte ein Fachvortrag von Prof. George Prigatano: Der Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Neuropsychologie am Barrow Neurological Institute aus Phoenix / Arizona (USA) zeigte unter anderem auf, dass ein Vielfaches an Zeit, Personal und damit Geld erforderlich sei, um Menschen mit erworbenen Hirnschäden eine gleichberechtigte Teilhabe am sozialen Leben zu ermöglichen. Durch die Methoden der klinischen Neuropsychologie könne man jedoch eine verbesserte soziale und berufliche Reintegration erzielen und damit nachfolgende Gesundheitskosten reduzieren. Prigatano war bereits das vierte Mal dem Ruf der Akademie bei König und Müller nach Würzburg gefolgt.
Beginn einer neuen Ära?
“Nur, wenn wir Grenzen bewusst wahrnehmen, können wir sie überwinden”, resümierte Tagungspräsident König im Rahmen der Abschlussveranstaltung am Samstag. Im Verlauf der dreitätigen Veranstaltung wäre immer wieder deutlich geworden, dass der ambulanten neuropsychologischen Versorgung gerade in Zeiten des demografischen Wandels eine besonders wichtige Rolle zukomme, der wachsende Kostendruck im Gesundheitswesen aber die Entwicklung zu sehr hemme.
Die verschiedenen Gesundheitsprofessionen müssten viel stärker miteinander vernetzt, bestehende Strukturen verändert und stärker in Personal und Technik investiert werden – so die einhellige Meinung der Podiumsgäste. “Die Tagung war spannend, unterhaltsam und weiterführend”, bekräftigte Prof. Dr. Andreas Monsch, Key-Note-Speaker aus der Schweiz. “Sie könnte den Beginn einer neuen Ära markieren.”
Was ist Neuropsychologie?
Ein Schädelhirntrauma, ein Schlaganfall, Alzheimer, Parkinson, Epilepsie oder Multiple Sklerose: Wenn Verletzungen, Entzündungen oder Erkrankungen das zentrale Nervensystem bzw. das Gehirnschädigen, können Funktionsstörungen die Folge sein, die sich auf das geistige Leistungsvermögen, die Motivation, die Gefühle und das Verhalten des Betroffenen auswirken. Die Teilhabe an der Lebensumwelt ist dadurch oft nur noch vermindert möglich. In der klinischen Neuropsychologie, einer Spezialdisziplin der Psychologie, werden diese Defizite und Einschränkungen zunächst genau ermittelt, um ihnen dann mit geeigneten Therapiemethoden entgegenzuwirken und so dem Patienten wieder mehr Lebensqualität zu ermöglichen. Dabei werden keine Medikamente eingesetzt. Zudem steht die Begleitung der Angehörigen im Fokus: Sie müssen mit den körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen, aber auch mit der seelischen Verfassung des Betroffenen umgehen lernen.