„Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen – den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Dieses Zitat Bertolt Brechts beschreibt ziemlich gut Situationen, die sich oft für behandelnde Ärzte von Patienten am Lebensende ergeben. Wie groß ist die Kluft zwischen Maximaltherapie und Palliativmedizin? Wie steht es mit der autonomen Willensentscheidung des Patienten angesichts des Todes? Kann das Leben als Schaden aufgefasst werden?
Diese und ähnliche Fragen standen bei der Veranstaltung des Klinischen Ethikkomitees (KEK) am Klinikum Würzburg Mitte (KWM) Ende letzten Jahres zur Diskussion. Internisten, Intensiv- und Palliativmediziner, sowie ein Theologe und der Mitbegründer der Hospizbewegung in Deutschland diskutierten Fälle aus dem Klinikalltag, die sowohl das Podium als auch die Zuhörer nachdenklich zurückließen. Dr. Kilian Distler, zum Zeitpunkt der Veranstaltung Kardiologe und Intensivmediziner am KWM, Standort Juliusspital, erzählte von einem 62-jährigen Patienten, der nach einem Fahrradunfall eine Querschnittslähmung davontrug. Diese macht ihn bewegungslos und hindert ihn am Atmen.
„Durch einen Luftröhrenschnitt war ein Weiterleben mittels künstlicher Beatmung möglich. Er lebt seit dem Unfall in einem Beatmungsheim und landet in regelmäßigen Abständen wegen Infekten und Arrhythmien immer wieder in der Klinik“, so der jetzige Chefarzt der Kardiologie am Klinikum Main-Spessart Lohr. „Beim letzten Mal mit einer Lungenentzündung und Herzrhythmusstörungen, die im Sinne einer Maximaltherapie einen Herzschrittmacher erforderten!“
Den Angaben von Dr. Distler zufolge habe der Patient weder Familie noch eine Patientenverfügung, sein gesetzlicher Betreuer existiere nur auf dem Papier, da dieser keine Zeit für regelmäßige Besuche habe. Was also tun? Wie kann ich den Patientenwillen ermitteln, wenn sich der Patient mir nicht mitteilen kann? „Wenn ich ohne Einwilligung des Patienten behandle, begehe ich Körperverletzung“, sagt Professor Dr. Christoph Schimmer, Leiter der herzchirurgischen Intensivmedizin am Uniklinikum Würzburg (UKW). Was also tun? Den Patienten sterben lassen, weil er vermutlich sowieso keine Lebensqualität mehr hat und weil Leben endlich ist?
„Als Ärzte verfolgen wir als oberstes Prinzip, das Leben zu erhalten, da der Tod den Patienten aller Möglichkeiten beraubt“, betont Dr. Jens Kern, Internist, Palliativmediziner und Vorsitzender des KEK am Standort Missioklinik des KWM. Außer es würde einem weiteren medizinischen Prinzip, dem Nicht-Schadensprinzip, widersprechen. Wann aber ist Leben ein Schaden für einen Patienten? Hat der 62 jährige Verunfallte, der alleine in einem Beatmungsheim lebt, und sich nicht äußern kann, noch Lebensqualität?
Der Theologe Dr. Peter Frühmorgen, Akademischer Rat am Lehrstuhl für Pastoraltheologie an der Universität Würzburg, wirft ein, dass der Mensch ein Beziehungswesen sei, und dass die Tatsache sowohl unser Leben als auch unsern Sterben beeinflusse. Will heißen, wenn nur ein Mitpatient oder eine Pflegekraft im Falle unseres 62-jährigen Beatmungspatienten behauptet, er habe Lebensqualität, werden wir uns als behandelnde Ärzte im Zweifel für das Leben entscheiden, so Intensivmediziner Professor Schimmer. Wie aber definiert sich Lebensqualität etwa am Lebensende?
Professor Dr. Ernst Engelke, Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Würzburg und Wegbereiter der Hospizbewegung in Deutschland erzählt von Patienten auf Palliativstationen, die sich aus dem Fenster auf die Straße stürzten oder sich im Zimmer strangulierten. Der Verfasser zahlreicher Publikationen zur Sterbeforschung sieht immer wieder die Ohnmacht aller Beteiligten (auch der Angehörigen) im Angesicht des nahenden Todes und ist deshalb auch ein Befürworter des Sterbefastens (Verzicht auf Wasser und Nahrung am Lebensende): „Ich kann niemanden zwingen sein Leben zu erhalten. Jeder hat das Recht zu sterben, jedoch nicht auf Suizid“, so der Hospizarbeiter Engelke. Wobei das wiederum Fragen auf den Plan ruft wie: „Ist Sterbefasten Suizid?“ Und „wenn ja, … „ist Rauchen, Alkohol oder schnelles Fahren auch suizidal?“, wirft Engelke ein.
In Deutschland sterben laut dem Statistikportal statista jährlich über 950.000 Menschen, rund 17.000 davon begehen Selbstmord. Diese Zahlen, so der Onkologe und Palliativmediziner Jens Kern, seien ein eindeutiges Indiz dafür, dass die meisten Menschen leben wollen, ja sogar eine unbändige Lust am Leben haben. Demzufolge kann Leben kein Schaden sein, oder? Im Falle des Patienten mit hohem Querschnitt¹ entschieden sich die Ärzte gegen den Herzschrittmacher und für die Behandlung der Lungenentzündung. Der Infekt klang ab und er konnte zurück ins Beatmungsheim gebracht werden.
Anmerkung: ¹Ab einer Schädigung des 4. Halswirbels (C4) aufwärts spricht man auch von einem hohen Querschnitt, der neben der vollständigen Körperlähmung auch die Lähmung des Zwerchfells zur Folge hat.