Heilen ist nicht Reparieren

Prof. Dietrich Grönemeyer: Hochkarätige Medizin & liebevolle Fürsorge dürfen kein Widerspruch sein

0

Das Pendel zwischen Ökonomie & Fürsorge schlägt seit Langem in die falsche Richtung aus. Lebenslinie hat sich mit Professor Dietrich Grönemeyer darüber unterhalten, wie sich Medizin verändern muss, damit der Mensch wieder im Mittelpunkt der ärztlichen Bemühungen steht …

Professor Dietrich Grönemeyer (DG): „Investitionen ins Gesundheitssystem müssen unter den Aspekten der Qualität und Menschenwürde und nicht mehr in erster Linie unter dem Aspekt der Kosten begriffen werden. Die Tatsache, dass unser Medizinbetrieb straff ökonomisch geprägt und durchorganisiert ist, hat fatale Folgen: Statt Zuwendung gibt es dann lieber mal eine Tablette oder vorschnell eine Operation, statt zunächst auf ausführliche Gespräche oder persönliche Untersuchungen des Körpers zu setzten, kommt zu viel kalte Technologie, die den Patient:innen im Gespräch auch nicht nähergebracht wird, zum Einsatz. Der Mensch als Individuum wird zu oft alleingelassen. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, aber auf eine würdevolle Heilkunst zwischen Hightech und Naturheilkunde, zwischen Psychosomatik und Umweltmedizin ist unser derzeitiges Gesundheitssystem nicht ausgelegt.“

Lebenslinie (LL): Welche Rolle kommt dabei der „Sprechenden Medizin“ zu? 

DG: „Zuwendung, Vertrauen und Empathie spielen eine große Rolle bei der Behandlung kranker Menschen, das wissen wir. Wir wissen außerdem, dass ein Vertrauensverhältnis zwischen Ärzt:in und Patient:in positive Emotionen unterstützt – das müssen wir nutzen und entsprechend umsetzen. Wir müssen unsere Schwerpunkte neu definieren und der ,sprechenden und zuhörenden Medizin‘ viel mehr Wert zumessen. Auch – und gerade – finanziell.“ 

LL: Warum misslingt im Ärzt:in-Gespräch so oft die Kommunikation auf Augenhöhe? 

DG: „Heilen ist etwas anderes als Reparieren. Jedem steht seine eigene Gesundheit zu, jeder Mensch definiert seine Normalität anders. Das müssen wir respektieren. Gesundheit ist eine Sache persönlicher Haltung und des individuellen Empfindens. Als Ärzt:innen müssen wir lernen, dass die Freiheit der Entscheidung beim Individuum liegt. Hier ist ein Mentalitätswandel dringend erforderlich. 

Und als Patient:innen müssen wir lernen, für uns selbst einzutreten, Entscheidungen für uns selbst zu treffen, auch wenn sie für die Gegenseite unbequem sein sollten. Auch hier ist ein Sinneswandel vonnöten, da die meisten Patient:innen gelernt haben: ,Ärzt:innen haben immer recht.‘ Eine ,Medizin auf Augenhöhe‘ ist das, was ich mir wünsche.“

LL: Was muss sich auch an der Ausbildung angehender Mediziner:innen verändern, wenn sich grundlegend im Medizinbetrieb etwas ändern soll?

DG: „Wir müssen in der Ausbildung den medizinischen Blick weiten. Das Medizinstudium ist auch heute fast ausschließlich naturwissenschaftlich ausgerichtet, psychologisches Grundwissen wird allenfalls gestreift. Wenn uns aber der ganze ,Seelenkram‘ schlichtweg egal ist, wenn wir unsere eigenen Gefühle und Ängste nicht kennen oder nicht wissen, wie wir damit umgehen sollen, wie können wir dann Hilfe suchenden Menschen zur Seite stehen? 

Dazu gehört auch Praxisnähe – etwa durch Patient:innenkontakt im ersten Studiensemester. Da hat sich in letzter Zeit immerhin schon einiges geändert, bei den meisten Studierenden kommen praxisnahe Konzepte gut an.“ 

LL: Gesundheitsminister Karl Lauterbach „bastelt“ nun an der längst überfällige Krankenhausreform. Wie muss diese Ihrer Ansicht nach aussehen?

DG: „Ich glaube, dass die Expert:innenkommission, die Karl Lauterbach eingesetzt hat, zu guten Ergebnissen gekommen ist. Natürlich müssen wir den ökonomischen Druck verringern, eine reine Ausrichtung an wirtschaftlichen Faktoren – als Stichwort sei die Fallpauschale im Krankenhaus genannt – ist weder im Sinne der Patient:innen noch der Beschäftigten im Gesundheitswesen, die darauf reduziert werden, Kostenfaktor zu sein. Wenn es um moderne Krankenhäuser geht, habe ich ,Gesundheitshäuser‘ im Kopf, in denen liebevolle Fürsorge und hochkarätige Medizin kein Widerspruch sind. Das ist die Zukunft, die ich mir vorstelle. Mit Wertschätzung für Ärzt:innen, Pflegende und andere Beschäftigte. Die elendige Kostendiskussion nervt mich seit Anfang meines Studiums. Sie lähmt.“

LL: Wie stehen Sie zu der angekündigten Ambulantisierung?

DG: „In Deutschland werden Patient:innen überdurchschnittlich häufig stationär behandelt – eine Verlagerung von stationären Fällen in den ambulanten Bereich ist aus medizinischer sowie ökonomischer Sicht sinnvoll. In unserem heutigen Versorgungssystem fehlt aus meiner Sicht zwischen Hausärzt:in, niedergelassenen Fachärzt:innen und Krankenhaus ein wesentliches Element: organspezifische Therapie-Zentren, in denen Spezialist:innen verschiedener Disziplinen im Team zusammenarbeiten. Diese zukünftige Struktur würde aus ambulanten und stationären Einheiten mit fließenden Übergängen bestehen. Das bisherige Krankenhaus, wie wir es kennen, wäre dann vielfach vernetzt: mit einer allgemeinärztlichen Hausarztpraxis einschließlich häuslichem Pflegedienst und weiteren Einheiten, etwa niedergelassenen Fachärzt:innen. So würde ein medizinisches Netzwerk geschaffen.“

LL: Sie plädieren für den „Mut zum Miteinander“. Wie wichtig ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit für eine Medizin zum Wohl der Patient:innen und wie kann diese gelingen angesichts vielfacher Vorbehalte auf allen Seiten?

DG: „Wir alle müssen über den Tellerrand unserer eigenen Profession hinausschauen. Wenn uns etwas an einer Reform des Gesundheitssystems liegt, müssen wir bereit sein zur Zusammenarbeit. Wir brauchen neue Lösungen und einen engen Zusammenschluss aller Heilberufe.  Worauf kommt es denn an? Es gilt grundsätzlich, die individuelle Erkrankung und das Wesen der Patient:innen zu erfassen und, wenn möglich, eine auf sie persönlich abgestimmte Behandlungsmethode zu finden, gleich welcher Schule. Es gibt aber kein DIN-Format für die konkrete individuelle Therapie. Wir Ärzt:innen müssen mehr, sehr viel mehr als bisher, die Möglichkeiten unserer global verknüpften Wissensgesellschaft nutzen.“

LL: Wie können wir wegkommen davon, die Medizin als Reparaturbetrieb und den Menschen als „Maschine“ zu betrachten?

DG: „Dieser Irrglaube ist die Kehrseite eines Fortschritts und einer High-Tech-Medizin, deren Erfolge gar nicht genug zu schätzen sind, die uns aber auch verführt haben, die ganzheitliche Betrachtung des Menschen zu vernachlässigen. Ärzt:innen werden ja meist erst dann aufgesucht, wenn der Körper nicht mehr so funktioniert, wie er sollte. Aber dass es gar nicht dazu kommt, das gehört – abgesehen von Unfällen oder Schicksalsschlägen – natürlich in die eigene Verantwortung. Das betrifft vor allem Sport und Bewegung, gesunde Ernährung, aber auch ­Stressreduktion, sich genügend Zeit nehmen, auf die Signale des eigenen Körpers, der Seele hören, es gibt da ja einen unglaublich wichtigen Zusammenhang.“

LL: Was macht für Sie persönlich Arztsein aus?

DG: „Mit allem, was ich tue, will ich helfen, Voraussetzungen für ein gesundes und zufriedenes Leben zu schaffen. Ich bin Arzt geworden, um mitzuhelfen, dass Medizin vorsichtiger und umsichtiger wird. Menschen glücklich zu machen, sie wieder zum Lachen zu bringen – das hat auch mein Verständnis von Medizin geprägt. Eine Medizin, in der es nicht darum geht, Menschen auf ihrem Weg zu mehr Wohlbefinden zu begleiten und zu unterstützen. Mein ganzes Leben lang habe ich mich darum bemüht, Patient:inen in ihrem ureigenen Sosein und in ihrer eigenen Befindlichkeit und Sprache als Persönlichkeiten gerecht zu werden.“

LL: Und wie gehen Sie mit der Heilserwartung der Patient:innen um und damit verbunden mit der Tatsache, dass Ärzt:innen letztendlich doch keine „Gött:innen in Weiß“ sind?

DG: „Der berühmte Schweizer Arzt aus dem 16. Jahrhundert Paracelsus formulierte das so: ‚Ärzte sind nur deine Gehilfen, der wahre Arzt bist du selbst‘. Davon abgeleitet sage ich: Jeder Mensch ist ein kleiner Medicus oder eine kleine Medica, der oder die meist viel mehr über sich selbst weiß als wir Mediziner:innen. Wo Ärzt:innen Krankheiten nicht mehr einfach verschwinden lassen können, können sie aber zu Lotsen werden, die ihren Patient:innen die richtigen Wege weisen. Denn nur mit viel Eigeninitiative kann man ein Leben lang aktiv und vital bleiben.“ Susanna Khoury

Das Interview mit Professor Dietrich Grönemeyer führte Lebenslinie-Chefredakteurin Susanna Khoury.

Share.