Emotionale Grundimmunisierung

Wie Urvertrauen entsteht: über die Bedeutung von Berührung

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Die Molekularbiologen David Julius (USA) und Ardem Patapoutian (Libanon), beide in Kalifornien arbeitend, haben im Oktober 2021 für das noch lange nicht auserzählte Thema „Berührung im Körper“ den Nobelpreis für Medizin erhalten. „Sie haben es uns ermöglicht zu verstehen, wie Wärme, Kälte und mechanische Kräfte die Nervenimpulse auslösen, die uns helfen, die Welt um uns herum wahrzunehmen und uns an sie anzupassen”, begründete das Nobelpreiskomitee in Stockholm seine Entscheidung. Psychologe Dr. Martin Grundwald nimmt in „Homo Hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können“ die gleiche Fährte auf. Grundwald belegt anschaulich, wie durch frühen Körperkontakt eine emotionale Grundimmunisierung stattfindet, die das Fundament für spätere Beziehungen in unserem Leben legt. Die Kindheitserfahrung, sich geborgen und sicher zu fühlen, kann wegweisend sein, ob wir im Erwachsenenalter vertrauen, verzeihen oder Nähe zulassen können. Zusammen mit Prof. Christina Kohlhauser-Vollmuth, Chefärztin der Missio Kinderklinik, integriert im Klinikum Würzburg Mitte (KWM), haben wir das Buch des Leiters des Haptik-Forschungslabors der Universität Leipzig gelesen und uns darüber ausgetauscht, aber nicht nur …

Lebenslinie (LL): Dr. Martin Grundwald spricht in seinem Buch „Homo Hapticus“ von Körperkontakt als „Lebensmittel“ und geht sogar so weit zu behaupten, dass wir ohne Tastsinn nicht überleben können. Warum ist der Tastsinn so wichtig?
Prof. Christina Kohlhauser-Vollmuth (KV): „Dr. Grundwald zeigt in seinem Buch auf, dass der Tastsinn mithilfe der Lanugobehaarung bereits vorgeburtlich ab der 17. Schwangerschaftswoche aktiv ist. Diese Behaarung in Form von sehr feinen, wenige Millimeter langen Härchen auf der Haut des Fötus wirkt wie ̦Tastantennen̒, die feinste Impulse, die der Fötus aus dem Fruchtwasser erhält, an das Gehirn weiterleitet. Der Tastsinn respektive das Tastsinnessystem ist für die Stimulation durch Reize, für den Flucht- und Schutzreflex, aber auch für Körperberührungen und damit sozialen Kontakte lebenswichtig. Bei der sogenannten dissoziierten Empfindungsstörung kann die Hand verbrennen, ohne dass man es bemerkt. Das wussten schon die Römer, als in der Legende Senator Gaius Mucius Scaevola – ohne mit der Wimper zu zucken – während einer Verhandlung mit dem Feind wie zufällig seine Hand in ein glühendes Kohlebecken legte. Der Feind war beeindruckt und zog ab. Nach Grunwald ist die ̦lebenserhaltende und biologische Kraft des nach innen und außen gerichteten Tastsinnessystems Begleiter des gesamten Lebens. Jede Berührung, jede Bewegung wird verwertet, ohne dass wir uns dessen bewusst werden̒.“

LL: Welche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Bonding nach der Geburt zu?
KV: „Bonding ist das Synonym für intensiven, ununterbrochenen Haut-zu-Haut-Kontakt zwischen dem neugeborenen Baby und seiner Mutter in den ersten Stunden nach der Geburt. Dieser intensive Haut-, Berührungs- und Blickkontakt führt zur Ausschüttung des Hormons Oxytocin, das den Bindungsaufbau zwischen Mutter und Kind unterstützt. Die positiven Wirkungen dieses innigen Kontaktes sind wissenschaftlich untersucht und hinreichend belegt: Das Neugeborene beruhigt und entspannt sich leichter, die Körpertemperatur kann besser gehalten werden, der Blutzuckerspiegel bleibt stabil, alle Reflexe des Neugeborenen werden stimuliert und der Stillbeginn erleichtert.“

LL: Zentrale biologische und psychologische Mechanismen werden durch Körperkontakt von Mutter und Kind in Gang gesetzt. Welche sind das?
KV: „Durch den ununterbrochenen Hautkontakt ist es dem Neugeborenen nach einiger Zeit möglich, selbstständig die Brust seiner Mutter zu finden, an die Brust ̦anzudocken̒ und das Kolostrum (energiereiche Vormilch) als erste Nahrung aufzunehmen. Diese innige körperliche Nähe und die damit verbundene Stimulation sind Grundlage für eine gesunde körperliche und seelische Entwicklung. Untersuchungen haben gezeigt, dass die physische Kontaktaufnahme nach der Geburt den Anpassungsprozess des Neugeborenen an die neuen Umweltbedingungen fördert. Auch wenn manchmal aus medizinischen Gründen Trennungsphasen nach der Geburt sein müssen, kann die Kontaktaufnahme nachgeholt werden. Das Känguruen (direkter Haut-zu-Haut-Kontakt zwischen Mutter/Vater und Kind) ist insbesondere bei Frühgeborenen auf der Intensivstation von großer Bedeutung. Es hat nachweislich positive Effekte auf die Regelmäßigkeit der Atmung, die Versorgung mit Sauerstoff (messbar als Sauerstoffsättigung) und das Gedeihen (Gewichtszunahme) des Frühgeborenen. Körperkontakt, aber auch Erkennen der Signale des Babys sind die Grundlage für eine stabile und lebenslang tragfähige Bindung und Bindungsfähigkeit – früher auch ̦Urvertrauen̒ genannt.“

LL: Körperkontakt und Streicheleinheiten sind für die Ausschüttung des „Kuschelhormons“ Oxytocin verantwortlich. Was ist Oxytocin, was löst es aus und warum ist es so wichtig?
KV: „Oxytocin wird bei angenehmen Körperkontakten ausgeschüttet, daher wird es häufig als ̦Kuschelhormon̒ bezeichnet. Folgen der Wirkung von Oxytocin im Körper sind: Die Atemfrequenz nimmt ab, der Blutdruck sinkt, die Blutgefäße erweitern sich und die Muskulatur entspannt sich. Es stellt sich ein wahrnehmbares Gefühl der Entspannung ein. Darüber hinaus beeinflusst es das Bindungserleben und unterstützt damit den Bindungsprozess zwischen Mutter und Kind. Die Oxytocin-Ausschüttung ist direkt an die Rezeptoren des Tastsinnessystems gebunden – daher finden alle diese Prozesse nur bei tatsächlicher physischer Nähe zu einem anderen Organismus statt.“

LL: Der Mundraum hat eine extrem hohe Tastintensität, daher nehmen Kleinkinder auch zunächst alles in den Mund, um es zu erforschen. Woher kommt diese extreme Ausprägung?
KV: „Im Säuglingsalter ist der Tastsinn über den Mund weitaus besser entwickelt als das visuelle System. Dank vieler sensibler Nervenendigungen im Mundraum macht sich der Säugling durch Ertasten des Gegenstands mit Lippen, Zunge und Gaumen ein ̦Bild̒ des Gegenstands. Mit zunehmender Reifung des visuellen Systems gelingt auch die bildliche Analyse und der Säugling lernt zu sehen und die Hände helfen dabei. Die aus den verschiedenen Sinneskanälen eintreffenden Informationen müssen mit den eigenen Körperbewegungen in ein sinnvolles Verhältnis gebracht werden – eine herausfordernde Aufgabe.“

LL: Grunwald sagt: „Alltag ist Berührung“. Über keinen Sinneskanal könne der Mensch so schnell Botschaften senden. Eine Umarmung sage mehr als tausend Worte …
KV: „Das Kommunikationsmittel der Körperberührung variiert je nach Umgebungsbedingungen, ist aber auch vom kulturellen und sozialen Kontext abhängig – es gibt viele unterschiedliche Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale (Wangenküsse, Handschlag, Umarmung, aber auch Vermeidung jeglichen Körperkontaktes wie etwa in Japan). Die Veränderung des seelischen und körperlichen Befindens nach unterschiedlich intensiven und unterschiedlich langen Körperberührungen ist nicht nur subjektiv, sondern auch durch Messverfahren nachweisbar. Die Freisetzung von Serotonin führt zur Entspannung mit Absinken des Blutdruckes. Gemessen werden kann etwa auch die Freisetzung von Cortisol (Stresshormon) und von Oxytocin. Es konnte gezeigt werden, dass selbst eine kurze Umarmung von nur 20 Sekunden zu einer deutlichen Senkung des Blutdrucks und einer Verminderung der Herzfrequenz führt. Ebenso, dass selbst kleine, nur wenige Sekunden andauernde Berührungsreize Einfluss auf unsere psychischen Prozesse haben können. Alle Menschen brauchen Berührung und die daraus entstehende positive Wirkung.“

LL: Stichwort: Erkrankungen, die unter die Haut gehen … zahlreiche Krankheiten werden mit einer Störung des taktilen Systems in Verbindung gebracht: Neurodermitis, Polyneuropathie, Anorexie oder auch Demenz– inwiefern ist das für Sie plausibel? Kann im Umkehrschluss eine „haptische“ Therapie helfen?
KV: „Die Haut ist mit ihren tastsensiblen Rezeptoren die wichtigste Struktur für das Tastsinnessystem. Krankhafte Hautveränderungen können daher Einschränkungen in diesem Bereich bedeuten. Bei der Neurodermitis oder atopischen Dermatitis sind der quälende Juckreiz und die Notwendigkeit zu intensiver und regelmäßiger Hautpflege oft belastend. Ob jedoch durch eine ̦haptische̒ Therapie alleine die Entzündungsvorgänge ursächlich behandelt werden können, ist noch sehr hypothetisch. Dass Erkrankungen mit ihren Symptomen und ihrer sozialen Auswirkung durch als positiv empfundene taktile Reize gebessert werden können, ist erwiesen und wird therapeutisch genutzt.

Inwieweit diskrete haptische Auffälligkeiten als früher diagnostischer Hinweis etwa bei Demenz genutzt werden können oder die Stimulation von haptischen Verarbeitungsprozessen therapeutischen Effekt zeigen kann zum Beispiel bei Anorexie, bleibt abzuwarten.“

Das Interview mit Professor Kohlhauser-Vollmuth, Chefärztin der Missio Kinderklinik im KWM führte Lebenslinie-Chefredakteurin Susanna Khoury.
www.kwm-missioklinik.de

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