Die Seele geht zu Fuß

Theologe Dr. Wolfgang Schuhmacher über Entschleunigung und Pilgern

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Viele Menschen leben in einer Situation, in der Zeit immer mehr verdichtet wird. Multitasking ist für die meisten Bestandteil der täglichen Herausforderungen. Vieles strömt im Arbeitsalltag und in Familie und Freizeit gleichzeitig auf einen ein. Computer und Maschinen machen das Leben in vielen Bereichen zwar einfacher. Aber die Zeit, die wir an der einen oder anderen Stelle sparen, und die Lücken, die dadurch entstehen, werden schnell wieder durch andere Dinge oder Tätigkeiten geschlossen. Der einzelne Mensch kommt den Dingen mit seiner Seele oft nicht mehr hinterher. Bornout-Syndrom, Herz-Kreislauf-Probleme und andere Erkrankungen sind häufig die Folge. Da ist das Pilgern ein starkes Gegengewicht zum Alltag und durchbricht ihn vollkommen. Beim Pilgern geht die Seele zu Fuß. Dieses alte Sprichwort lässt schnell erahnen: Hier geht es um Verlangsamung und Entschleunigung. Hier geht es um das Tempo, das der Seele des Menschen guttut. Hier kommt sie zur Ruhe. Wenn die Seele zu Fuß geht, ist sie auf dem Entdeckungspfad des Ichs auf den Spuren der Biographie. „Die Seele geht zu Fuß“ bedeutet auch, dass sie mit dem ganzen Körper unterwegs und in Bewegung ist. Beide machen die gleiche Bewegung und sind auf dem gleichen Weg. Die Seele kann auf die Spuren blicken, die der Körper hinterlässt. Die Seele kann den Körper und die Füße aber auch auf neue, bislang unentdeckte Pfade des Ichs führen. Körper, Geist und Seele kommen auf dem Fuß-Pilgerweg nach und nach (wieder) in den gleichen Rhythmus und das gleiche Zeitmaß. Sie lernen, sich wieder gegenseitig wahrzunehmen. Wenn Körper, Geist und Seele zu Fuß gehen, erfahren sie neben der (Selbst-)Bewegung im Laufen im Medium der Leiblichkeit über die zahlreichen Sinneseindrücke auf dem Weg, wie sie aufeinander verwiesen sind. Sie lernen auch, dass sie allein nicht sein, nicht existieren können. Auf dem Weg zu Fuß öffnen sich über die Sinneseindrücke, die über die Natur oder innere wie äußere Erfahrungen wahrgenommen werden, Aspekte des Lebens, die dem eigenen Weg eine neue Richtung oder Bedeutung geben können. Pilgernde können auf diese Weise auf dem Weg über das neue rhythmische Miteinander von Körper, Geist und Seele den Sinn des eigenen Lebens wieder neu entdecken und dem eigenen Sein einen tieferen Sinn schenken oder sich von Gott beschenken lassen. Es ist die tiefe Sehnsucht in unserem Herzen, die uns nach Neuem suchen lässt. Es sind die Füße, die einen auf dem Weg tragen. Es ist die Seele, die einen leitet und den Blick für Gott öffnet. Dafür braucht es Zeit und Raum. Es braucht Stille und Einsamkeit. Es braucht Innehalten und Aufbrechen. Es braucht das Beten und Zweifeln. Es braucht Gottes Gnade, die dieses Geschenk zeigt. 

Gastbeitrag von Dr. Wolfgang Schuhmacher, Theologe und Leiter der Evangelischen Tagungsstätte Wildbad Rothenburg

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