Ob Antibiotika, Bluthochdrucksenker, Psychopharmaka, Schilddrüsenmittel, Magensäureblocker oder Schmerzmittel – 2018 waren laut dem Deutschen Arzneimittelprüfungsinstitut (DAPI)1 über 9 Millionen Medikamenten-Packungen nicht lieferbar gewesen (zum Vergleich: 2017 waren es mit 4,7 Millionen knapp die Hälfte).
Bei den 9,3 Millionen handle es sich nicht nur um spezielle Präparate, so das DAPI. Oft verschriebene Medikamente seien vielfach über Wochen nicht beziehbar. Diese Einschätzung teilt auch im Jahr 2020 der Würzburger Apotheker Dr. Helmut Strohmeier: „Bei uns ist jeden Tag eine Fachkraft ein bis zwei Stunden damit beschäftigt, Lieferengpässe bei gängigen Arzneimitteln wie etwa Ibuprofen2 (Schmerzmittel) oder Valsartan3 (Blutdrucksenker) zu managen. Nur so können wir derzeit als Apotheke noch unseren Versorgungsauftrag erfüllen und müssen Patienten nicht ohne ihre oft lebenswichtig benötigten Medikamente wegschicken!“
Laut gut unterrichteter Kreisen spielen sich ähnliche Szenarien auch in den Kliniken der Region ab. Wenn etwa das Kurzzeit-Narkosemittel Propofol wie kürzlich über Monate nicht lieferbar ist, müssen Anästhesisten auf Narkotika ausweichen, die anders und meist länger sedieren als Propofol und in der Regel auch nicht so gut verträglich sind. Die Leidtragenden, kommentiert Dr. Strohmeier, seien in diesem Fall vor allem ältere Patienten, die dann bei längeren Narkosen unter anderem einer größeren Delir-Gefahr (Verwirrtheitszustände) ausgesetzt sind. Chronisch kranke ältere Patienten hätten auch in der Apotheke die größeren Schwierigkeiten, sich bei Lieferengpässen auf eine andere Darreichungsform oder einen anderen Hersteller ihrer „altbewährten“ Mittel einzustellen, so Strohmeier.
Vielfach bliebe ihm und seinen Kollegen jedoch nichts anderes übrig, als auf das gerade verfügbare ninhaltsgleiche oder -ähnliche Produkt nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt sowie der Krankenkasse auszuweichen, sodass aus dem Lieferengpass kein Versorgungsengpass werde. Wie kann es in einem Land wie Deutschland dazu kommen, dass laut der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) rund 290 Arzneimittel (Stand Dezember 2019) nicht verfügbar sind? Die Gründe seien multifaktoriell, sagt Dr. Strohmeier. Der augenfälligste für ihn seien die Rabattverträge, die Krankenkassen mit den Herstellern abschließen: „Hier gibt es oft nur einen Produzenten, der für eine Wirkstoffgruppe den Zuschlag bekommt, meist in einem Billiglohnland im Nicht-EU-Ausland wie China oder Indien. Wenn dieser – aus welchen Gründen auch immer – nicht liefern kann, kommt es dann weltweit zu Lieferengpässen bei bestimmten Medikamenten.“
Als Beispiel führt der Apotheker die vorübergehende Lahmlegung der Produktion von Valsartan im letzten Jahr an, initiiert durch die Änderung des Produktionsweges in einer chinesischen Fabrik, die zu Rückrufen des häufig verordneten Blutdrucksenkers wegen potenziell krebserregender Verunreinigungen in dem Mittel geführt hatten. Dr. Strohmeier und auch die bayerische Gesundheitsministerin Melanie Huml plädieren für eine Rückverlagerung der Produktion von Arzneimitteln nach Deutschland oder zumindest in die EU, auch wenn das für Krankenkassen, Krankenhäuser und Patienten in Deutschland bedeuten würde, dass sie für Medikamente wieder tiefer in die Tasche greifen müssten. Argumente für diesen Schritt liefert auch die sich zuspitzende Corona-Krise.
„Preise wie beim Discounter für lebenswichtige Arzneimittel … der Bumerang kommt gerade mit voller Wucht zurück und wir alle zahlen den Preis … irgendwann auch mit unserer Gesundheit“, mahnt Apotheker Helmut Strohmeier.
Quellen: 1 www.dapi.de, 2 nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR), 3 aus der Gruppe der AT1-Antagonisten