Wenn ich an meinen letzten Krankenhausaufenthalt denke, dann erinnere ich mich an Schwestern, die mehrmals täglich – auch in der Nacht – den Kopf zur Tür reinstreckten und sich nach mir erkundigten, im größten Stress immer ein liebes Wort übrig hatten, zum zweiten Mal am Tag das Bettzeug wechselten und mich umzogen, wenn es nötig war, und das – auch wenn sie wegen Unterbesetzung nachts alleine für ihre und noch einen Teil einer anderen Station zuständig waren.
Ich erinnere mich an Ärzte, die, um mich zu behandeln, aus ihrem wohlverdienten „Frei“ kamen, die bei meiner Behandlung einen langen Atem bewiesen und Empathie zeigten, die nach immer neuen Lösungen suchten, damit ich gesund würde.
Und ich erinnere mich vor allem an eines: Meine Ärzte übernahmen die Verantwortung für mich und meine Gesundheit, weil ich – obwohl ich Journalistin bin – kein „mündiger“ Patient war, der auf Augenhöhe gemeinsam mit dem Arzt Entscheidungen über die Weiterbehandlung treffen konnte.
Warum nicht? Weil ich körperlich und psychisch mehr als angekratzt war und viel zu sehr damit beschäftigt, Angst um mein Leben und meine berufliche Existenz zu haben. „Alles wird gut!“ – wenn ich ehrlich bin – das ist das Einzige, was ich hören wollte, und ich hörte es mehrmals am Tag!
Geschäftsmodell Gesundheit
Fürsorge, Empathie, Hingabe an den Beruf oder Dienst am Menschen, diese „Dinge“ haben in den neuen Krankenhaus-Abrechnungssystemen (DRGs), die auf Fallpauschalen fußen (Diagnosis Related Groups:
„diagnosebezogenen Fallgruppen“), keine Vergütungsnummer.
Auf Deutsch: Fürsorge und Hingabe werden nicht bezahlt, obwohl sie maßgeblich zur Gesundung eines kranken Menschen beitragen und damit von unschätzbarem Wert sind. Unbezahlbar im wahrsten Sinne des Wortes! „In ihren Händen wird aus allem Ware. In ihrer Seele brennt elektrisch Licht. Sie messen auch das Unberechenbare.
Was sich nicht zählen lässt, das gibt es nicht!“ Mit diesem Zitat Erich Kästners umschreibt Prof. Dr. Giovanni Maio vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin in Freiburg in seinem Buch „Geschäftsmodell Gesundheit. Wie der Markt die Heilkunst abschafft“ die Auswirkungen der Ökonomisierung auf die Medizin.
Wie persönliche Zuwendung auf dem Altar der Marktwirtschaft geopfert wird, „weil sie sich kaum zählen und damit schlecht messen lässt“! Begriffe wie Caritas, Barmherzigkeit oder Hingabe zählten nichts mehr und gelten als antiquiert, so Prof. Dr. Maio, obwohl sie es waren, die der Medizin einst ihre Prägung
verliehen und überhaupt den Beginn stationärer Medizin ermöglichten.
Maio fragt: „Hat sich Medizin von ihrem ureigenen Auftrag entfremdet?“ Seiner Meinung nach gehe es in der Medizin nicht darum, nur das Richtige zu tun, sondern um den Modus, in dem es getan werde. Nicht was man tue, sondern wie man es tue, mache den Erfolg einer Behandlung aus.
„Daher kann eine Therapie auch nicht standardisiert sein, weil sie die Antwort eines Menschen auf die individuelle Not eines anderen Menschen ist“, betont der Medizinethiker.
Neun Millionen Überstunden
In das gleiche Horn bläst Prof. Dr. Arne Manzeschke in seinen Ausführungen als Gastredner bei einer Veranstaltung des Klinischen Ethikkomitees (KEK) an der Missionsärztlichen Klinik (Missio) in Würzburg
mit dem Thema: „Ökonomisierung – zur Sinnkrise in deutschen Krankenhäusern“.
Laut dem Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung e. V. (DIP) wurden zwischen 1996 und 2008 rund 50.000 Vollzeit-Pflegestellen im stationären Bereich in Deutschland abgebaut (rund jede siebte Stelle).
Laut DIP ist im gleichen Zeitraum die Zahl der zu behandelnden Patienten um rund zwölf Prozent angestiegen. Das Ergebnis: „2012 sammelten sich in der Pflege rund neun Millionen Überstunden an, umgerechnet sind das rund 5.000 Vollzeitstellen“, so Manzeschke.
Der Krankenstand in der Berufsgruppe liege 20 Prozent über dem Mittel (im Vergleich zu anderen Berufssparten) und die Arbeitsunzufriedenheit wegen zu hoher Belastung bei rund 50 Prozent“, berichtet der Leiter für Ethik und Anthropologie am Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Arne Manzeschke.
Der Stellenabbau in der Pflege zusammen mit dem steigenden Druck auf Personal und Organisation eines Krankenhauses, immer weiter Gewinne zu erzielen, generiere eine Gesundheits-Vernichtungsmaschine betont der Professor für Anthropologie und Ethik für Gesundheitsberufe an der Evangelischen Hochschule Nürnberg.
Supererogation ist nicht einforderbar
Die Ökonomisierung führe zu einer pervertierten Supererogation (Supererogation ist Pflichterfüllung, die über das normale Maß hinausgeht, Beispiel: Der barmherzige Samariter).
Supererogation ist für die meisten Menschen, die in der Medizin arbeiten, selbstverständlich, sonst hätten sie keinen Beruf ergriffen, bei dem es darum geht, anderen Menschen zu helfen. Doch dieses sich Einsetzen über die normale Pflichterfüllung hinaus – oft bis an die Grenzen der Erschöpfung und Selbstaufgabe – sei keine einforderbare Leistung, so der studierte Theologe und Philosoph Manzeschke.
Aufgrund der vielerorts „schlechten“ Zahlen in den Krankenhaus- Bilanzen würde Supererogation jedoch eingefordert, ja sogar eingeplant. Eingeplant und eingerechnet in ein System, das dieses Engagement nicht vergütet.
Das führe zu einer seelischen Dissonanz bei den berufsmäßig Helfenden, da der Spielraum für persönliches Engagement aus tiefster Überzeugung nicht mehr gegeben sei, mahnt Prof. Manzeschke.
Es herrsche eine Kultur des Ausreizens.
Prof. Dr. Manzeschke bringt es mit dem Bild des Bambus, den man biegen, aber nicht brechen darf, auf den Punkt. „Die Grenze der Mitarbeiter-Flexibilität in helfenden Berufen wird immer weiter und weiter ausgereizt, ohne die Bruchstelle des Bambus zu sehen oder gar zu kennen!“ Dadurch werde der helfende Mensch in seinem Sosein grundlegend verändert (Motivation werde moralisch ausgehebelt).
Es ist nicht alles schlecht!
Dr. Jens Kern, Vorsitzender des KEK am Missio, der die Veranstaltung „Ökonomisierung – zur Sinnkrise in deutschen Krankenhäusern“ organisiert hat, sieht das ein wenig anders als sein Vorredner: „Es ist nicht alles schlecht. Man muss es differenziert betrachten“, betont der Oberarzt in der Inneren am Missio.
Seine Medizinergeneration sei in den Beruf anders hineingewachsen und darin ganz anders verwurzelt.
„Wir haben früher ohne Ende Überstunden geschoben, ohne dass es jemanden interessiert hat. Das war normal. Das gehörte und gehört auch heute noch für mich zum Beruf des Arztes!“
Heute werden alle Überstunden der Ärzte bezahlt oder in Freizeit ausgeglichen, das dürfe man nicht vergessen, so Jens Kern. Auch seien von 1995 bis 2008 in deutschen Krankenhäusern rund 25.000 Stellen für Ärzte neu geschaffen worden.
Laut DIP waren es 1995 noch 97.380 Ärzte während es 2008 bereits 122.702 Vollzeitstellen für Krankenhausärzte gab. Das korrelliert mit dem DRG-System, da ärztliche Leistung hier abbildbar und somit abrechenbar ist.
„Ich gebe zu, die Pflege fällt da hinten runter. Hier bin ich auch der Meinung, dass man diese Zitrone nicht weiter auspressen kann…!“ Dennoch habe das Missio beispielsweise überdurchschnittlich gute Patienten-Bewertungen, auch in der Pflege. Aber zu welchem Preis? „Es ist ein Spagat“, sagt Kern, „es ist nicht so, dass alles gut ist, aber es ist auch nicht so, dass man sagt, so kann ich nicht weiterarbeiten“.
Belastbarkeitsgrenze selbst festlegen
Laut dem Medizinethiker Jens Kern habe jeder Arzt/jede Ärztin und auch alle anderen, die im Krankenhausbetrieb arbeiteten, selbst die Wahl, was sie noch akzeptierten und was nicht mehr. „Die Entscheidung ist eine höchst Persönliche“, meint Kern.
Anders als Prof. Manzeschke sieht Dr. Kern sich nicht als Organisator eines Streiks, der die Politik zum Handeln zwinge, weil das Klinikpersonal organisiert auf die Straße ginge. Er glaube auch nicht, dass Geld alle Probleme, die im Krankenhaus derzeit auflaufen, lösen würde.
Seiner Ansicht nach müssten Faktoren wie persönliche Wertschätzung, Kommunikation, Zeit, gemeinsame Entscheidungen über Hierarchien hinweg wieder mehr auf die Agenda gesetzt werden. Er persönlich wolle auch kein Dienstleister sein, auch keinen Dienst nach Vorschrift machen, er sei Arzt!
Wenn er sich etwas wünschen dürfte, würde er die DRGs abschaffen, da diese dazu führten, dass nicht mehr nur der Mensch im Mittelpunkt stehe.
Alles wird gut?
Diese Fokussierung auf den Menschen, so Kern, sei aber zwingend notwendig für eine gute Behandlung und Gesundung: „Es ist so, dass die Heilung besser vonstatten geht, wenn man wirklich Zeit für den Patienten hat. Der fühlt sich dann gleich besser und hat Vertrauen, dass alles gut wird“.
Oscar Wilde sagte einmal: „Am Ende wird alles gut. Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende!“ In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass die Krankenhaus-Reform noch nicht am Ende angekommen ist, die Ökonomisierung keine weiteren Blüten treibt und der bereits angeschlagene Patient „Krankenhaus“ in der Zwischenzeit nicht kollabiert.
Denn auch, wenn nicht alles schlecht ist, dass alles gut ist, kann man nicht behaupten. Die Hoffnung stirbt zuletzt: Entweder kommt das dicke Ende noch oder: „Alles wird gut?!“