Achtung vor dem Leben bewahren

Prof. Dr. Franz Staudt über einen alten Kodex mit modernen Botschaften

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Foto: ©depositphotos.com/@ pakhay

Es gibt kaum einen anderen Beruf, der auf einem so alten und dabei so anspruchsvollen Moralkodex verweisen kann, wie die Medi- zin: den Eid des Hippokrates. Das Klinische Ethikkomitee des Klinikums Würzburg Mitte (KWM) lud Ende 2018 dazu ein, mit dem Gastredner Prof. Dr. Franz Staudt, dem ehemaligen ärztlichen Direktor der Kinderkli- nik Passau, der Frage nachzugehen, welche Bedeutung der Eid des Arztes aus Kos für die moderne Medizin noch hat.

Ist dieses mehr als 2000 Jahre alte Dokument geeignet, um heutige ethische Medizinnormen daran auszurichten?

„Die Medizin scheint sich immer mehr zu einem Wirtschaftsbetrieb zu ent- wickeln. In verschiedenen Bereichen wird die Qualität der Behandlung durch Menge an Leistung ersetzt. In besonders sensiblen Bereichen, wie zum Beispiel der Versorgung von Kindern wird es aber unmöglich bleiben, Wirtschaftlichkeit als Gradmesser einer guten medizinischen Behandlung anzusehen“, heißt es schon in der Einladung zu diesem Vortrag.

Als erstes: Fürsorgepflicht

Und tatsächlich seien unmündige Kinder oder demente Erwachsene im Eid des Hippokrates nicht berücksichtigt, sagt Professor Staudt, der nach seiner Pensionierung noch ein Ethikstudium an der Hochschule für Philosophie in München absolviert hat. Und auch, dass Mediziner sich um ihre alten und kranken Lehrer kümmern müssten und diese finanziell unterstützen sollten, hat heute keinerlei Wirkprinzip mehr.

Aber der Kodex des „Vaters der Medizin“ habe dennoch in vielerlei Hinsicht nicht an Bedeutung verloren (siehe auch das Genfer Gelöbnis, die „moderne Version“ des Hippokratischen Eides): „An erster Stelle steht immer noch die Fürsorgepflicht des Arztes und damit das Patientenwohl sowie der Grundsatz ‚primum nihil nocere‘ (‚in erster Linie nicht schaden‘), ebenso wie die Gleichbehandlung aller Patienten, ungeachtet, ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer religiösen Anschauung und das Versprechen, die ärztliche Macht, nicht zu missbrauchen sowie die Be- wahrung der ärztlichen Schweigepflicht“, referiert Professor Staudt.

Den höchsten Stellenwert habe bei Hippokrates die Verpflichtung zu helfen gehabt, also die Achtung vor dem Leben. All diese Prinzipien fußen auf einer Arzt-Patienten-Beziehung, die auf Vertrauen aufgebaut ist, und eben das gerate dieser Tage gefährlich ins Wanken – oder um mit den Worten Professor Giovanni Maios zu sprechen, ist sie das gravierendste Opfer des aktuellen Ökonomisierungstrends im Gesundheitswesen. „Wir Ärzte haben uns durch die neu eingeführten Fallpauschalen das Heft aus der Hand nehmen lassen. Dennoch sollten wir uns den Luxus gönnen, nach ärztlichen Maßstäben zu handeln, nicht nach ökonomischen“, plädiert Prof. Dr. Christina Kohlhauser-Vollmuth, Mitveranstalterin und Chefärztin für Kinder- und Jugendmedizin im KWM, Standort Missio-Klinik, für mehr Rückgrat innerhalb der Ärzteschaft.

Auch Dr. Jens Kern, Vor- sitzender des Klinischen Ethikkomitees am Standort Missio-Klinik und ebenfalls Gast- geber, bricht eine Lanze dafür, dass diagnosebezogene Fallgruppen (DRGs) medizinische Entscheidungen nicht beeinflussen dürfen: „Und ich für meine Person kann sagen, dass ich mich davon auch nicht beirren lasse. Was medizinisch notwendig ist, tue ich und werde ich auch immer tun“, so der Oberarzt für Innere Medizin, Schwerpunkt Onkologie, in der Missio-Klinik. Jeder Chefarzt würde unterschreiben, dass er effizient arbeite, berichtet Professor Staudt aus der Praxis.

Diktat der Zeitökonomie

Das hieße jedoch nur, dass ärztliches Handeln Ökonomie ermöglichen müsse, aber nicht von ihr bestimmt werden dürfe. Das ökono- mische Diktat des Marktes sei in erster Linie ein Diktat der Zeitökonomie, so der Medizinethiker Professor Maio in seinem Buch „Geschäftsmodell Gesundheit – Wie der Markt die Heilkunst abschafft“. Die Gesundung eines Menschen brauche aber Zeit – manchmal sogar einen langen Atem.

Mit dem Verlust der Tugend des Zuwarten-Könnens verändere sich die gesamte Kultur der Behandlung, so Maio, und es komme sukzessive zu einer Entsubjektivierung des Arzt-Patienten-Kontaktes, bei dem Ärzte die doppelten Verlierer seien: „Sie verlieren das Vertrauen ihrer Patienten und ihren inneren Frieden“, betont Professor Maio.

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