Muttersprache prägt Babylaute

Schon das erste Schreien von Neugeborenen trägt Spuren der Muttersprache

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Foto: ©depositphotos.com/@postolit

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Schon das erste Schreien von Neugeborenen trägt Spuren der Muttersprache. Das zeigt sich offenbar besonders deutlich, wenn es sich um Tonsprachen handelt, bei denen die Tonhöhe oder der Tonhöhenverlauf die Bedeutung von Wörtern bestimmen. Dies konnten chinesische und deutsche Wissenschaftler unter Federführung durch die Uni Würzburg jetzt an neugeborenen Babys aus China und Kamerun zum ersten Mal zeigen.

Für europäische Ohren klingen tonale Sprachen ungewohnt: Anders als beispielsweise im Deutschen, Französischen oder Englischen tragen bei ihnen auch die Tonhöhen, in denen Silben oder Wörter ausgesprochen werden, zur Bedeutung bei. Der scheinbar gleiche Laut kann demnach völlig unterschiedliche Dinge bezeichnen – je nachdem, ob er in einer hohen oder tiefen Tonlage oder mit einem besonderen Tonverlauf ausgesprochen wird.

Tonale Sprachen in China und Afrika

Das Hochchinesisch oder Mandarin ist ein Beispiel für solch eine tonale Sprache. Die offizielle Amtssprache Chinas wird hauptsächlich in China, Taiwan und Singapur gesprochen – aktuell von gut einer Milliarde Menschen. Vier charakteristische Töne muss beherrschen, wer diese Sprache sprechen will. Deutlich komplizierter ist Lamnso, die Sprache der Nso – einem Volk von geschätzt 280.000 Menschen, die in der Hauptsache im Nordwesten Kameruns in hochgelegenen Dörfern des Graslandes leben und dort Ackerbau betreiben. Die komplexe tonale Sprache kennt acht Töne, von denen etliche zusätzlich in ihrer Kontur variieren. Soll heißen: Wer Lamnso perfekt sprechen will, sollte nicht nur dazu in der Lage sein, die perfekten Töne zu treffen, sondern bei bestimmten Wörtern zusätzlich auch noch spezifische Tonhöhenverläufe einzubauen.

Wenn Schwangere solche komplexen tonalen Sprachen sprechen: Zeigt sich das im Weinen ihrer Neugeborenen? Diese Frage haben Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern in einem Projekt jetzt gemeinsam untersucht. Die Ergebnisse ihrer Studien haben sie in den aktuellen Ausgaben der Fachzeitschriften Speech, Language and Hearing und Journal of Voice veröffentlicht.

Das Weinen gleicht wie die Tonsprachen einem Singsang

Das Ergebnis: „Das Weinen von Neugeborenen, deren Mütter eine tonale Sprache sprechen, zeigt eine deutlich stärkere melodische Variation, verglichen beispielsweise mit deutschen Neugeborenen“, sagt Professor Kathleen Wermke, Leiterin des Zentrums für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen des Universitätsklinikums Würzburg (Poliklinik für Kieferorthopädie) und Erstautorin der beiden Studien. So war bei den Kindern der Nso in Kamerun nicht nur die „innerlautliche Gesamtvariation der Tonhöhe“, also der Abstand zwischen tiefstem und höchstem Ton, deutlich größer; auch das kurzzeitige Auf und Ab von Tönen während einer Lautäußerung fiel intensiver aus im Vergleich zu den Neugeborenen deutschsprachiger Mütter. „Ihr Weinen glich mehr einem Singsang“, beschreibt Wermke diesen Effekt. Ähnlich sahen die Ergebnisse bei den Neugeborenen aus Peking aus – allerdings etwas schwächer ausgeprägt.

Sprache von Anfang an

Aus Sicht der Wissenschaftler spricht dieser Befund für eine Theorie, die sie auch schon bei Vergleichen von deutschen und französischen Neugeborenen bestätigt gesehen hatten: „Der Erwerb von Bausteinen für die spätere Sprache beginnt bereits gleich nach der Geburt; nicht erst, wenn Babys anfangen zu babbeln oder erste Wörter produzieren“, sagt die Wissenschaftlerin. Nachdem sie während des letzten Drittels der Schwangerschaft hinreichend Gelegenheit hatten, im Bauch der Mutter ihre „Muttersprache“ kennen zu lernen, zeigen Neugeborene in ihrem Weinen charakteristische melodische Muster, die von der Umgebung – wie eben der Sprache der Mutter – beeinflusst sind, und das, noch bevor sie erste Laute gurren oder sich im sprachähnlichen „Silbenbabbeln“ ausprobieren.

Gleiche Befunde über Kulturgrenzen hinweg

Gleichzeitig sprechen die Forschungsergebnisse für ein hohes Maß an Universalität in den Lautäußerungen von Babys über Kulturgrenzen hinweg. „Wir haben in diesem Fall Neugeborene aus sehr unterschiedlichen Kulturkreisen untersucht“, sagt Kathleen Wermke. Da sind auf der einen Seite Neugeborene aus Peking, die umgeben von allen Einflüssen moderner Zivilisation – Radio, Fernsehen, Smartphone – herangewachsen sind. Auf der anderen Seite die Kinder der Nso, die in einer ländlichen Umgebung zur Welt gekommen sind, in der es an allen technischen Errungenschaften der Moderne fehlt. „Dass sich trotz dieser Unterschiede in den Kulturen ähnliche Effekte in den beiden tonalen Sprachgruppen gegenüber der nicht-tonalen deutschen Gruppe zeigen, spricht dafür, dass unsere Interpretation der Daten in die richtige Richtung weist“, so die Wissenschaftlerin.

Vorsichtig formuliert könnten diese Ergebnisse sogar den Schluss nahelegen, dass nicht nur äußere, sondern auch genetische Faktoren hier mitbeteiligt sind. „Natürlich bleibt unbestritten, dass Neugeborene dazu in der Lage sind, jede gesprochene Sprache der Welt zu erlernen, unabhängig davon, wie komplex sie ist“, sagt Kathleen Wermke.

Grundlage für die frühe Diagnose von Störungen

55 Neugeborene aus Peking und 21 aus Kamerun haben die Wissenschaftler im Rahmen ihrer Studien untersucht und deren Lautäußerungen in den ersten Lebenstagen aufgezeichnet. Extra zum Weinen gebracht wurden die Babys dafür selbstverständlich nicht. „Wir haben nur spontane Lautäußerungen aufgezeichnet, in der Regel immer dann, wenn sich ein Baby bemerkbar machte, weil es Hunger hatte“, sagt Kathleen Wermke.

Aus Sicht der Wissenschaftler tragen die Ergebnisse dieser Studien dazu bei, wesentliche Einflussfaktoren auf die frühesten Phasen der Sprachentwicklung besser zu verstehen als dies bisher der Fall war. Dies verbessere gleichzeitig die Möglichkeit, Frühindikatoren zu identifizieren, die zuverlässig Auskunft über mögliche Entwicklungsstörungen in diesem Bereich zu einem sehr frühen Zeitpunkt geben können. Bis zu einer klinischen Anwendung seien allerdings noch zahlreiche weitere Fragen zu klären.

Fundamental frequency variation within neonatal crying: Does ambient language matter? Kathleen Wermke, Johanna Teiser, Eunice Yovsi, Paul Joscha Kohlenberg, Peter Wermke, Michael Robb, Heidi Keller & Bettina Lamm. Speech, Language and Hearing, http://dx.doi.org/10.1080/2050571X.2016.1187903

Fundamental Frequency Variation in Crying of Mandarin and German Neonates. Kathleen Wermke, Yufang Ruan, Yun Feng, Daniela Dobnig, Sophia Stephan, Peter Wermke, Li Ma, Hongyu Chang, Youyi Liu, Volker Hesse, and Hua Shu. Journal of Voice, http://dx.doi.org/10.1016/j.jvoice.2016.06.009

Kontakt:
Prof. Dr. Kathleen Wermke, T: (0931) 201-73 430; Wermke_K@ukw.de

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