Jeder Buchstabe hat seine Tücken

Ergotherapeutin Annemarie Gräbner hilft Kindern bei schreibmotorischen Problemen

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Der Schrank im Therapieraum der ergotherapeutischen Praxis von Annemarie Gräbner ist mit lauter bunten Bildern übersät. Ein Junge namens Kilian etwa gestaltete „die beiden bösen Buben“ Max und Moritz. Ein anderes Kind schuf eine Schildkröte, die sich anscheinend an der Sonne labt. „Das sind Knüllbilder“, erklärt die Ergotherapeutin Annemarie Gräbner. Ihre kleinen Patientinnen und Patienten, die wegen schreibmotorischer Probleme kommen, basteln solche Bilder als Hausaufgabe. Denn Papier zu knüllen, das fördert die Motorik.

Gräbners Initiative ist es zu verdanken, dass Linkshänder in den vergangenen Jahren in Würzburg kompetente Hilfe fanden. Auf dieses Feld hatte sich die Ergotherapeutin spezialisiert. Weit über die Region hinaus machte sie sich damit einen Namen. Durch diese Spezialisierung kam sie allmählich dazu, sich überhaupt mit dem Thema „Schreibmotorik“ zu befassen. „Eltern von Linkshändern, die bei mir in Behandlung waren, fragten mich, wer denn dem rechtshändigen Geschwisterkind vernünftiges Schreiben beibringen könnte“, erzählt sie. Annemarie Gräbner dachte nach: Stimmt, hierfür gab es erst wenig ergotherapeutische Angebote! So begann sie, Kinder unabhängig von ihrer Händigkeit bei schreibmotorischen Problemen zu behandeln.

Heute ist der siebenjährige Oskar bei ihr. Auf einem Treppenstuhl sitzt der kleine Junge am großen Tisch des Therapieraums vor einer Schreibunterlage für Rechtshändler. „Die hat Johanna Barbara Sattler aus München entwickelt“, erklärt Gräbner. Auf der Unterlage ist eine Schildkröte zu sehen, die auf einer Hand hinaufkriecht. „Die Finger sollen sich bewegen wie der Kopf und der Hals einer Schildkröte“, erklärt die Ergotherapeutin dem Kind.

Während der Junge schreibt, achtet sie darauf, dass stets beide Hände auf dem Tisch liegen. Und dass der Stift richtig mit drei Fingern gehalten wird: „Der Stift soll auf dem Mittelfinger liegen, Zeigefinger und Daumen führen ihn ganz locker, sodass die Schulter entspannt ist.“ Auf jener Seite, auf der sich die Schreibhand befindet, sollte die obere Ecke des Blatts etwas vom Körper weggezogen sein.

Was man früh einübt, wird zur Gewohnheit. Zum Beispiel, dass beim Schreiben stets der ganze Arm auf dem Tisch liegt. Nur so kann man entspannt Buchstabe an Buchstabe aneinanderreihen. „Oft arbeiten die Kinder mit dem Arm direkt am Bauch“, beobachtet die Ergotherapeutin.

Was Annemarie Gräbner Kindern mit schreibmotorischen Problemen beibringt, ist gutfundiert und x-fach erprobt. Jeder Buchstabe, sagt sie, habe seine Tücken. Das erklärt sie am Beispiel des O. Die Problematik bestehe hier nicht einmal darin, dass das O perfekt rund gelingt: „Es geht darum, den Buchstaben richtig anzufangen und ihn richtig zu beenden.“ Die Kinder lernen, dass es nicht gut ist, dass O, wie die Ergotherapeutin das nennt, „bei 12 Uhr anzusetzen“: „Dann findet die letzte Bewegung zum Schließen des O gegen die Schreibrichtung statt.“ Geschickter sei ein Ansatz „zwischen ein und zwei Uhr.“ Danach könne rechts weitergearbeitet werden. Gut und schön mit der Hand zu schreiben, gilt heute nicht mehr als elementare Voraussetzung für späteren Erfolg im Beruf. Schließlich wird das meiste auf der Computertastatur getippt. Für Jugendliche scheint das Schreiben mit der Hand inzwischen ein Relikt aus alter Zeit zu sein. Wer schreibt schon noch „echte“ Briefe. Botschaften werden mithilfe von Texterkennungsprogrammen verschickt. Dieser Trend wirkt auf die Schule zurück.

„Haben Kinder große Probleme mit der Schreibmotorik, lassen Lehrer sie manchmal einfach auf dem Tablet weiterarbeiten“, weiß die Fachfrau. Das hält sie jedoch für keinen guten Ansatz. Wie könne sich ein Kind auf diese Weise motorische Grundfertigkeiten aneignen? Viel besser sei es, die Feinmotorik zu trainieren, sodass die Kinder fähig werden, durch fließende, kombinierte Fingerbewegungen die unterschiedlichen Buchstaben aus geraden und geschwungenen Linien, Bögen, Strichen und Punkten zu formen.

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