Bücher auf Rezept

Der medizinische Wert von Worten oder die Bedeutung der Bibliotherapie

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Foto: ©depositphotos.com/winterling

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Der Arzt schreibt ein Rezept aus, auf dem der Titel eines Buches und dessen Autor steht. Das ist nicht erfunden, sondern passiert tatsächlich, und zwar in England seit zweieinhalb Jahren. Mit diesem Rezept
geht man nicht in die Apotheke, sondern in die nächste Stadtbücherei. Großartig!

„Reading well – books on prescription“ heißt die Initiative, die von englischen Bibliothekaren und Medizinern gemeinsam ins Leben gerufen wurde. Vornehmlich bei leichten bis mittelschweren Depressionen erzielen die Therapeuten damit gute Erfolge.

Das klinische Wörterbuch Pschyrembel definiert Bibliotherapie als eine „Form der Psychotherapie, bei der der Patient durch die Lektüre einer gezielten Auswahl geeigneter Literatur darin unterstützt werden soll, seine Probleme zu verbalisieren und klarer zu reflektieren…“.

Zuflucht Parallelwelt

Der Rückzug zwischen zwei Buchdeckel ist also nicht nur eine Flucht, sondern bietet Zuflucht. Im Vorwort zu seiner „Lyrischen Hausapotheke“ (1936) kündigt Erich Kästner an, dass die Texte darin auch „seelisch verwertbar“ seien, weil es „bekömmlich“ sei, zu sehen, dass es Anderen auch nicht anders
ergehe als einem selbst.

Das Kopfkino, das beim Lesen entsteht, lässt uns erleben, was der Autor erlebt und schafft dadurch eine zweite Wirklichkeit, quasi eine Parallelwelt.

Sogenannte Spiegelneuronen seien dafür verantwortlich, so der Hirnforscher Giacomo Rizzolatti, dass wir das Gelesene simulieren und als innere Bilder wie einen Film ablaufen lassen. Wir tauchen ein in diesen Lesekosmos und gehen verändert wieder aus ihm hervor.

Heilsame Liaison

Wenn zwei Welten aufeinandertreffen, gibt es eine Reaktion, von der beide nicht unberührt bleiben. Für die Literatur und die Medizin scheint das zuzutreffen.

Marcel Reich-Ranicki († 2013), seines Zeichens Literaturpapst, ging sogar noch weiter. Er behauptete, beide, Ärzte und Schriftsteller, seien Fachleute für menschliches Leiden.

„Der eine, indem er es behandelt, und der andere, indem er es beschreibt. Beide rebellieren gegen die Vergänglichkeit und verteidigen das Leben. Und sie haben einen gemeinsamen Feind, den Tod. Man kann sagen, sie sind Geschwisterkinder!“

Diese Liaison ist heilsam, auch wenn man noch nicht genau weiß warum. Die amerikanische Neuropsychologin Maryanne Wolf bestätigt Lesen als Therapeutikum bei psychischen Erkrankungen.

Ganz im Sinne des eingangs zitierten „lyrischen Arztes“ Kästner, der behauptet: „Lesen spendet Trost, macht Mut, stiftet Sinn, vermittelt Erfahrungen und verändert Perspektiven, es amüsiert und berührt!“

Vertieftes Lesen verändere auch die Gehirnstruktur, so Maryanne Wolf. Wie und in welchem Ausmaß, muss noch weiter erforscht werden.

Narrative Medizin

Ihre Kollegin von der Columbia Universität, Rita Charon, nimmt den Faden auf und spinnt ihn fort.

Sie ist Internistin und promovierte Literaturwissenschaftlerin und plädiert wieder für narrative Medizin (sprechende Medizin) im „Tagesgeschäft“ als Pendant zur evidenzbasierten Medizin, die mittlerweile den gesamten (Behandlungs-) Raum eingenommen hat.

Es gehe darum, die Patientengeschichte wie einen literarischen Text zu lesen, zu analysieren und zu interpretieren. Wenn man sich Zeit nimmt, genau hinhört, dann pegelt man sich aufeinander ein, spiegelt sich und findet im Dialog zu einer Lösung.

Und kein Apparat der Welt kann das übernehmen…!

Quelle: Lesen als Medizin (Rogner & Bernhard Verlag Berlin 2015)

CoverAndrea Gerk, Lesen als Medizin, Rogner & Bernhard Verlag
Berlin 2015, ISBN 978-3-95403-084-2, Preis: 22,95 Euro,
www.rogner-bernhard.de

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