Stabile Seitenlage für die Seele

Dr. Christoph Lehner, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, erklärt, was Corona mit uns macht und wie wir am besten damit umgehen

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Über zwei Jahre Pandemie – der Ausnahmezustand hält schon lange an. Zu lange für manchen Menschen. „Stress oder Ängste“, so berichtet die WHO¹, seien derzeit die „vorwiegenden psychologischen Auswirkungen“. Ebenso nähmen Einsamkeit, Depression, schädliche Suchtmechanismen sowie selbstschädigendes oder suizidales Verhalten zu. Dr. Christoph Lehner, Chefarzt der Psychosomatischen Fachabteilung an der Steigerwaldklinik in Burgebrach, kann das bestätigen.

Das Thema Corona beansprucht auch auf seiner Station zunehmend mehr Raum. „Die Erwartungen, dass nach einer ersten oder zweiten Welle wieder alles ‚normal‘ wird, wurden enttäuscht“, so der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. „Das ständige Auf und Ab mit allen damit verbundenen Maßnahmen schlaucht.“ Eine Rückkehr zum vor der Pandemie gekannten „normalen“ Leben stehe zunehmend in Frage. „Das führt zu einem Gefühl der Ohnmacht und der Ausweglosigkeit, was in Wut und Ärger umschlagen kann.“ Dringend nötig: stabile Seitenlage für die Seele. Durch das entstandene „belastende Gefühlsgemisch“ changieren die Menschen zwischen Hoffen und Bangen, Sorge um die Liebsten, um die Existenz, um Leben und Tod, Angst vor Vereinsamung, vor Armut, vor dem Ausbrennen. Wie geht man damit um? Dr. Lehner rät: emotionale Spannungsfelder benennen.

Eine Hilfe könnte dabei der Austausch mit Vertrauenspersonen sein (geht auch digital). Sie seien oft einen guter Gratmesser zur Einordnung der eigenen Reaktionen. „Wenn man das schafft, ist man schon ziemlich weit.“ Wichtig sei aber auch, Gefühle nicht zu beurteilen. Ein Gefühl sei nicht besser oder schlechter als ein anderes. Gefühle seien auch nicht richtig oder falsch. „Sie sind einfach was sie sind.“ Es gelte zunächst, beobachtende Beschreibung der Emotionen vorzunehmen. Erst danach könne es etwa um die Suche nach Ursachen gehen. Betroffene könnten sich dann zum Beispiel die Frage stellen: „Hatte ich solche Gefühle schon einmal? Wie bin ich in der Vergangenheit damit umgegangen?“ „Manche Patient:innen berichten, dass sie ihre Ängste als nicht logisch erleben“, berichtet der Arzt. Sie bekämen zum Beispiel Panikattacken an Orten, an denen sie schon oft gewesen seien oder hätten Ängste, die nicht greifbar wären. „Es ist ein Unterschied, ob ich mir Gedanken mache oder ob ich in einen Angstzustand rutsche.

Und stellt sich heraus, dass der oder die Betroffene nichts an der eigenen Bredouille ändern kann, der Punkt situativ angemessener Reaktionen überschritten ist, ist es Zeit, sich Hilfe zu holen.“ Und auch präventiv könne man ganz viel tun. Dr. Lehners Appell an alle in diesen herausfordernden Zeiten lautet: „Betreiben Sie Selbstfürsorge! Ziehen Sie Grenzen und entdecken Sie, was Ihnen guttut.“ Insofern könne die Pandemie auch eine Chance sein, so wie jede wie auch immer geartete Krise.

Quellen:
¹https://www.euro.who.int/de/health-topics/health-emergencies/coronavirus-covid-19/publications-and-technical-guidance/noncommunicable-diseases/mental-health-and-covid-19

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