Mit schwerem Gepäck unterwegs

Wie die Gewalt im Rettungswesen zunimmt und was das mit den Helfern macht. Im Gespräch mit Notfallsanitäter Jürgen Keller

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„Ich bin immer wieder bass erstaunt, wenn mir im Einsatz Gewalt entgegenschlägt. Man rechnet als Helfer nicht damit und versteht die Welt auch nicht mehr … man riskiert sein Leben, seine Gesundheit, um jemandem in Not zu helfen, und landet am Ende womöglich selbst im Krankenhaus“, sagt der Notfall- sanitäter Jürgen Keller. Foto: Christoph Fleschutz ©die Johanniter

„Erst kürzlich habe ich erlebt, dass ein er- fahrener Kollege, der seit 25 Jahren hier im Hause Dienst tut, in Frührente geht wegen Posttraumatischer Belastungsstörung“, plaudert Notfallsanitäter Jürgen Keller (53) aus dem Nähkästchen. Gewalt am „Arbeitsplatz“ sei für die Helfer inzwischen an der Tagesordnung, sagt Keller, der in 28 Jahren hauptamtlichem Dienst bei der Johanniter-Unfall-Hilfe e.V. bei rund 60.000 Einsätzen Teil des Rettungsteams war.

Verbale Gewalt täglich, körperliche Gewalt immer öfter, Sachbeschädigung, wie 2010 als ein Notarztwagen während des Einsatzes mit einem Graffiti besprüht wurde, seltener – zumindest in Würzburg, resümiert der Familienvater. Die Gewalt bei Einsätzen von Rettungskräften habe in den letzten Jahren merklich zugenommen. Respektlosigkeit oder gar Handgreiflichkeit Helfern gegenüber, das habe es früher so nicht gegeben, so der studierte Betriebswirt.

Und auch, wenn Sanitäter oder andere Einsatzkräfte nicht unmittelbar von Gewalt betroffen sind, sondern nur indirekt durch die Opfer von Gewalt, die sie am Unfallort vorfinden, wie etwa 2016 beim Anschlag in der Regionalbahn nach Ochsenfurt als ein unbegleiteter Flüchtling fünf Menschen mit einem Beil und Messer angriff und vier davon schwer verletzte – es packt einen an.

„Mit den ersteintreffenden Helfern, die damals zum Unglücksort kamen, haben wir in der Nacht noch eine Nachbesprechung gemacht. Sie hatten schreckliche Bilder im Kopf“, erzählt der erfahrene Sanitäter. Und diese Bilder, die habe man wie in einem imaginären Rucksack als Retter immer huckepack. Man müsse aufpassen, dass es nicht zu viele werden, und der Rucksack nicht zu schwer …!

„Ich würde deswegen meinen Dienst nicht quittieren, auch nicht wegen der zunehmenden Verrohung der Gesellschaft, kann aber verstehen, wenn es Kollegen tun“, meint der Ausbildungsverantwortliche der Notfallsanitäter bei den Johannitern in Würzburg. Er selbst wurde schon mehrmals Opfer von Gewalt bei einem Einsatz. Ein Faustschlag gegen die Stirn von einem angetrunkenen Patienten war noch die harmlose Variante. Einen Kollegen, der vor einer Diskothek von einem Betrunkenen einen Schlag abbekommen hatte, musste er sogar aus dem Dienst nehmen und ins Krankenhaus bringen. Dieser habe heute noch mit den Folgen des Angriffs zu tun. Durch den Schlag aufs Ohr habe er Verletzungen davongetragen, die immer noch seinen Gleichgewichtssinn beeinträchtigen.

„Aber wir werden nicht immer nur verhauen, es gibt auch viel Dankbarkeit und Lob von Verunfallten“, freut sich der engagierte Helfer. Und das sei es auch, warum die meisten Sanitäter trotz aller Unwägbarkeiten, ungeregelter Arbeitszeiten und einer Bezahlung, die gemessen an der Verantwortung größer sein sollte, immer wieder rausfahren: dieses Gefühl am Ende des Tages, ein oder sogar mehrere Menschenleben gerettet zu haben. Das gute Gefühl, das sich in Helfern ausbreite, das Adrenalin, das über sie ausgegossen werde und die Endorphine, die ihnen manchmal tagelang Flügel verleihen, weil sie etwa ein Kleinkind vor dem Ersticken gerettet haben, das sei nicht mit Gold und Geld aufzuwiegen!

„Man darf nicht vergessen, wir halten jeden Tag, das höchste Gut, was es gibt, in Händen: ein Menschenleben“, betont Keller.

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