Langsam wieder Worte finden

Vor 30 Jahren ging in Würzburg das erste deutsche Aphasiker-Zentrum an den Start

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Im Zentrum für Aphasie & Schlaganfall Unterfranken finden Betroffene und Angehörige Hilfe (im Bild von links Psychologin Beate Hechtle-Frieß, Angehöriger Manfred Neuhöfer, Zentrums-Geschäftsführer Thomas Hupp sowie die Aphasiker Jutta Neuhöfer und Andreas Ringling). Foto: AZU

Nach dem ersten Schock heißt es handeln. Und jede Menge Fragen klären. Wo werden Rehas für Menschen mit Aphasie angeboten? Welche Stelle übernimmt welche Kosten? Wie kann die ambulante Therapie organisiert werden? „Früher war man mit all dem völlig alleingelassen“, sagt Manfred Neuhöfer, dessen Frau Jutta nach einer Hirnblutung Aphasikerin wurde. Heute haben es Betroffene leichter. Denn am 5. Dezember 1989 ging in Würzburg das erste deutsche Zentrum für Aphasie & Schlaganfall an den Start.

Die „Aphasiker-Bewegung“ wurde von einem Mann ins Rollen gebracht, der selbst das Schicksal Aphasie erlitt: Nach einem Reitunfall verlor der promovierte Jurist Erich Rieger die Fähigkeit, zu sprechen. Das war 1972 gewesen. Auch Rieger fühlte sich völlig alleingelassen. Er ging auf die Suche nach Menschen, die sein Schicksal teilten. 1981 gründete er eine erste Selbsthilfegruppe.

„Die traf sich im Keller seines Hauses“, weiß Thomas Hupp, der das Zentrum für Aphasie & Schlaganfall Unterfranken (AZU) heute leitet. Acht Jahre später kam es zur Gründung der Anlauf- und Beratungsstelle in der Würzburger Theaterstraße.

Die Beschädigung sprachlicher Bereiche im Gehirn ist ein tragisches Ereignis, das nicht nur akut erschüttert. Das ganze weitere Leben wird dadurch beeinflusst. Jutta Neuhöfer zum Beispiel, die am 8. Januar 1990 eine Hirnblutung erlitt, kämpft seit fast 30 Jahren Tag für Tag darum, dass die Worte zurückkehren. Ein einziges Wort konnte sie sagen, als sie nach vier Monaten aus dem Koma erwachte und feststellte, wie es um sie stand. Es ist kein salonfähiges Wort. Doch das einzige Wort, das in ihrer Situation passte: „Sch….“. Jutta Neuhöfer war verzweifelt. Fachleute prognostizierten, dass sie nie mehr würde sprechen können.

Zwischen damals und heute liegt ein Quantensprung. Intensive Sprachtherapie, nicht zuletzt aber auch die Angebote im AZU sorgten sukzessive für Fortschritte. Noch immer kann Jutta Neuhöfer nicht fließend sprechen. Doch die 60-Jährige versteht alles. Und kann sich artikulieren. „Wenn wir uns mit Bekannten treffen, werde dennoch meist ich angesprochen“, sagt ihr Mann. Die Vorurteile und Vorbehalte gegenüber Menschen mit Aphasie, so Manfred Neuhöfer, hätten sich in 30 Jahren kaum geändert.

Auch Andreas Ringling hat unzählige Male erlebt, dass er wegen seiner Aphasie nicht ernst genommen wurde. „Zum Beispiel auf Behörden“, sagt der 55-Jährige, der vor zehn Jahren durch einen Schlaganfall Aphasiker wurde. Inzwischen kann sich der gelernte Feinblechner wieder gut ausdrücken. „Ich schätze, ich habe 70 Prozent meines Sprachvermögens zurückgewonnen“, sagt er. Auch die restlichen 30 Prozent allmählich zu erobern, daran arbeitet er intensiv. Wobei Ringling nicht immer die notwendige Energie aufbringen kann: „Manchmal bin ich richtig down.“ Dann geht Ringling zu Psychologe Thomas Hupp, um mit ihm zu sprechen.

Die Gespräche geben ihm Power, die Krise zu überwinden. Wohin er sich sonst wenden könnte, wüsste Andreas Ringling nicht. „Hilfe zu bekommen, ist gerade für Menschen mit Aphasie nicht leicht“, bestätigt AZU-Psychologin Beate Hechtle-Fries. Die Wartelisten von Psychotherapeuten sind ohnehin unglaublich lang. Aphasiker, stellt das Team des AZU fest, haben noch geringere Chancen auf einen ambulanten Therapieplatz.

Das Zentrum für Aphasie & Schlaganfall geht auf die Vielzahl von Problemen ein, die Menschen mit Aphasie haben. Das Team weiß insbesondere um die psychosozialen Schwierigkeiten der Betroffenen. „Am Anfang hatte ich vor allem Angst, Angst davor, auf die Straße zu gehen, Angst vor anderen Menschen“, schildert Jutta Neuhöfer. Hinzu kommen Kämpfe mit der Krankenkasse und der Rentenversicherung. So werden Anträge auf Logopädie, auf eine Reha oder bestimmte Hilfsmittel oft erst einmal abgelehnt. Das Team des AZU klärt über Rechtsansprüche auf, hilft, Widersprüche zu formulieren und begleitet die Betroffenen bis vors Sozialgericht.

Dass jemals wieder alles „wie vorher“ werden wird, darauf brauchen Menschen mit Aphasie nicht zu hoffen. Fast alle müssen, wie Jutta Neuhöfer und Andreas Ringling, zäh um Erfolge ringen. Das wiederum bedeutet, dass die meisten Männer und Frauen, die ihren Weg ins AZU gefunden haben, dort sehr lange Zeit, nicht selten sogar ihr Leben lang bleiben. Aus diesem Grund wächst die Zahl der Menschen, die vom Zentrum für Aphasie & Schlaganfall in Unterfranken begleitet, beraten und unterstützt werden. Rund 3.000 sind es heute in der Region. Dazu zählen Betroffene. Angehörige. Und Experten, die sich um Menschen mit Aphasie kümmern.

Das AZU, lässt sich nach 30 Jahren feststellen, leistet wirksame Hilfe und Unterstützung. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich das Team immer wieder auf neue Bedarfe und Bedürfnisse einstellt. Aktuell wird zum Beispiel an Konzepten getüftelt, wie digitale Medien stärker in die Arbeit eingebunden werden könnten. Auch differenziert sich das Selbsthilfe-Angebot immer weiter aus. Kürzlich ging zum Beispiel eine Männergruppe an den Start. Und auch für Angehörige gibt es inzwischen unterschiedliche Angebote. Denn es bedeutet auch für Familienmitglieder ein Unterschied, ob die Aphasie neu aufgetreten ist. Oder schon fünf Jahre besteht.

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