Laut jüngster wissenschaftlicher Studien* leiden 23 Millionen Menschen in Deutschland unter chronischen Schmerzen. Das ist fast jeder Dritte in unserem Land. Als „chronisch“ gilt Schmerz dann, wenn er länger als drei bis sechs Monate andauert oder stetig wiederkehrend ist. Schmerz gehört zum Leben dazu.
Als Schutz- und Warnsignal des Körpers ist er sogar überlebensnotwendig. Will er jedoch nicht weichen und beginnt er Fühlen, Denken, Handeln – ja das ganze Leben zu überschatten oder gar zu bestimmen – mutiert er zum „Vernichter und Folterknecht“, so die Deutsche Schmerzliga (Selbsthilfeorganisation, die sich seit 25 Jahren als Sprachrohr und Informationsmedium für Schmerzpatienten versteht).
Das Team der Schmerzambulanz und Schmerztagesklinik des Zentrums für interdisziplinäre Schmerzmedizin des Universitätsklinikums Würzburg (UKW) kümmert sich mit einem multimodalen Ansatz (über alle Disziplinen hinweg) um genau diese Schmerzpatienten. Sie alle haben eine lange Leidensgeschichte bereits hinter sich und gelten vielfach als austherapiert.
„Schmerz ist ein komplexes Gebilde“, betont Dr. Elmar-Marc Brede, Leiter der Schmerzambulanz des UKWs. „Die 5-Minuten-Medizin da draußen kann chronischen Schmerzpatienten nicht gerecht werden. Wir haben noch die Zeit, respektive dürfen sie uns nehmen unter Zuhilfenahme aller Disziplinen“, so Oberarzt Dr. Brede. Dieses multimodale Arbeiten berge die meiste Chance auf Erkenntnis!
Gemeinsam mit Professor Dr. Heike Rittner, Leiterin der Schmerztagesklinik, Diplom-Psychologin Christiane Johnson und Sportwissenschaftler und Physiotherapeuten Stefan Lindner fühlt er dem Schmerz auf den Zahn.
Ein Großteil der Anamnese, so Prof. Rittner, passiere in der Ambulanz: das Sichten und Einordnen bisheriger Befunde, das Abfragen medikamentöser Therapien und die Einschätzung des Patienten, was geholfen habe und was nicht sowie zusätzliche Diagnostik anderer Disziplinen (Neurologie, Orthopädie, Psychotherapie) im Haus.
Übergeordnetes Ziel der Schmerztherapie ist beim Gros der Fälle ein lebenswertes Leben mit dem Schmerz bei der Arbeit und in der Freizeit. Häufig nimmt dann in der Folge auch die Schmerzintensität ab.
Akzeptanz- und Commitment-Therapie ist das Schlüsselwort, wie auch Professor Albert Diefenbacher, Chefarzt der Abteilung Psychatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Berlin, in der Fachzeitschrift „Psychotherapie im Dialog“ (Thieme Verlag, Stuttgart, 2016) konstatiert: „Die Patienten müssen lernen, sich nicht vom Schmerzerlebnis dominieren zu lassen, sondern ihr Handeln wieder daran orientieren, was sie als lebenswert empfinden“.
Der Erfolg einer Therapie, so auch PD Dr. Brede, sei daran messbar, ob sie Schmerzpatienten Langzeitkonzepte für mehr Lebensqualität an die Hand gebe. Die multimodale Schmerztherapie des UKWs werde daher individuell zugeschnitten und findet an zwei bis fünf Tagen die Woche zwischen 8 und 17 Uhr statt und das über zwei bis drei Monate hinweg. Nach einer längeren Pause gibt es eine Auffrischungswoche des „Gelernten“.
Der zu behandelnde Schmerz betrifft in der Vielzahl der Fälle Knochen, Gelenke und Muskeln (Rückenschmerz rangiert auf Platz 1), aber auch Kopfschmerz- und Fibromyalgie-Patienten werden in der Schmerzklinik vorstellig. Unter ferner liefen auf der Häufigkeitsskala rangieren Schmerzen bedingt durch seltene Erkrankungen oder Phantomschmerzen.
Sportwissenschaftler Stefan Lindner ist Teil des Schmerzteams und arbeite sich in der Physiotherapie mit dem Patienten, wie er selber sagt, bis an die Schmerzgrenze heran (Ausnahme seien Fibromyalgie-Patienten). „Mein Etappenziel ist es, Schmerzpatienten körperlich wieder fit fürs Leben zu machen“, so Lindner.
Die Rückführung ins Arbeitsleben ist für viele das A und O, sagt Professor Heike Rittner. Der Verlust sinnstiftenden Tuns oder sozialer Kontakte ziehe gerade bei Schmerzpatienten psychische Folgeerkrankungen nach sich.
Daher interessiert sich Diplom-Psychologin Christiane Johnson bei ihrem Erstgespräch mit dem Patienten auch für Vieles wie zum Beispiel: Hat der Patient eine eigene Erklärung für den Schmerz? Wann ist der Schmerz das erste Mal aufgetreten und was hält ihn immer noch aufrecht? Was beeinflusst den Schmerz positiv was negativ?
Fragen über Fragen, deren Antworten aus allen Disziplinen sich wie Puzzleteilchen zusammenfügen und am Ende ein Bild, im Idealfall einen Lösungsansatz, für die Therapie ergeben. Schmerz hat viele Gesichter und demzufolge genauso viele Ursachen.
Daher habe ich auf die Frage „Was ist Schmerz?“ eingangs bewusst verzichtet und das Therapieteam des UKWs gebeten, Schmerz anhand einer Farbe, eines Tieres und eines Gebäudes zu umschreiben.
Christiane Johnson empfindet den Patienten mit chronischen Schmerzen als Chamäleon, das sich seiner Umgebung anpasst: „Allerdings zunächst im negativen Sinne mit Rückzug und Vermeidung. Durch die Therapie soll der Patient lernen, sich neu zu ‚justieren‘ und ein lebenswertes Leben mit Schmerzen zu führen“, so die Psychologin.
Ihre Farbe für den Schmerz ist Grün, weil Zuversicht ein erklärtes Ziel ihrer Behandlung ist. Ein Gebäude sei ihr nicht eingefallen, eher ein Gerät, nämlich eine Zeitmaschine.
Denn gerade bei ihrer Arbeit sei es wichtig, mit dem Patienten sowohl in die Vergangenheit (weg vom defizitären Denken: „Was konnte ich früher alles leisten“) als auch in die Zukunft zu reisen („Was möchte ich trotz Schmerzen wieder machen?“), um festzustellen: „Was kann ich Jetzt und Hier für mein Ziel tun?“
Physiotherapeut Lindner wählt die Farbe Orange, für ihn die Lebhaftigkeit und Lebensfreude. Genau diese möchte er in seiner Bewegungsarbeit vermitteln: „Es soll kein Durchquälen durch die ‚Sportstunde‘ sein, sondern die Patienten sollen Spaß haben!“ Das Tier seiner Wahl ist der Delphin, der Beweglichkeit, Kraft und Ausdauer in sich vereint.
Eigenschaften, die er auch Schmerzpatienten mit auf ihren Weg geben möchte. Auch er hat sich um das Gebäude „gemogelt“ und ist auf einen Ort ausgewichen, der selbsterklärend ist: das Trainingslager.
Für die Leiterin der Schmerztagesklinik, Prof. Dr. Heike Rittner, ist „Schmerz“ bunt, weil jeder Patient seine eigene Schmerzgeschichte mitbringt. Jeder Schmerz sei anders und so auch jede Therapie. Tiere sind ihr in Bezug auf den Schmerz gleich zwei eingefallen, einmal der störrische Esel, an dem man hinreden kann und der sich dennoch keinen Meter bewegt, aber auch der Hase, der hilflos, verunsichert in der Ecke sitzt und dann plötzlich das Weite sucht und Haken übers Feld schlägt.
Ihr Gebäude der Wahl ist ein Mehrgenerationenhaus: Schmerzen können vom Kind bis zum Greis alle treffen, und die Hausgemeinschaft lebt davon, dass alle zusammenwirken für das große Ganze. Das gilt auch für die Arbeit der unterschiedlichen Therapeuten mit den Schmerzpatienten. Dr. Elmar-Marc Brede, Leiter der Schmerzambulanz sieht „rot“, wenn es um Schmerz geht, aber nur in der Anfangsphase, bei Akutschmerz.
Danach hat auch für ihn der „Schmerz“ viele Farben und Facetten. Als Wolf, der sich im Dunkeln heranpirscht und von Unwohlsein bis Angst alles bei den Menschen auslösen kann, visualisiert er „Schmerz“. Aber er gibt auch zu bedenken, dass unser treuester Freund, der Hund, vom Wolf abstammt…, was dann wohl bedeute, dass er „domestizierbar“ ist?!
Das Gebäude, das er mit „Schmerz“ assoziiert, ist ein altes Fabrikgebäude, das man nicht seinem Schicksal überlassen muss bis es in sich zusammenfällt, sondern wunderbar wiederhergestellt werden kann.
Es verliere vielleicht etwas an altem Charme, und die Restaurierung koste langen Atem und Geduld. Aber am Ende gehe Etwas verändert aus der Metamorphose hervor – doch so verändert, dass man gut damit leben könne, meint Dr. Elmar-Marc Brede.
*Quelle: Winfried Häuser, MD, Gabriele Schmutzer, PhD, Anja Hilbert, PhD, Elmar Brähler, PhD, and Peter Henningsen, MD: Prevalence of Chronic Disabling Noncancer Pain and Associated Demographic and Medical Variables. A Cross-Sectional Survey in the General German Population, 2014, www.cinicalpain.com