Hand aufs Herz? Wer kennt sie nicht, die Zeiten, in denen man weder rechts noch links schaut, mit Tunnelblick die To-do-Liste abarbeitet, während sich parallel schon der nächste Berg an Arbeit auftürmt. „Wir leben in einer sehr sympathischen Gesellschaft“, sagt die Coachin für Stressbewältigung und Resilienz, Isabelle Meid, und verweist damit auf den Sympathikus, der Teil unseres autonomen Nervensystems ist, der in Stress-Situationen für unsere Kampf- und Flucht-Reaktion zuständig ist. „Sein Gegenspieler ist der Parasympathikus, der für unsere biologische und seelische Balance sorgt, und in Ruhe-Phasen seine Arbeit verrichten kann. Ein wichtiger Teil davon ist der Vagus-Nerv. Er kümmert sich darum, dass im hektischen Alltag der überschießende Sympathikus gebremst wird und die Regeneration nicht zu kurz kommt“, weiß Meid. Der zehnte und längste Hirn-Nerv sei nicht nur für die Steuerung überlebenswichtiger Körperfunktionen wie etwa Atmung, Blutdruck oder Verdauung zuständig, sondern auch für Stressregulation. Er ist sozusagen die „Datenautobahn“ des Körpers zum Gehirn. Ihn gelte es zu aktivieren, um das Gleichgewicht (die Homöostase) im Körper zu unterstützen. Der Vagus-Nerv sendet Informationen vom Gehirn zum Körper und umgekehrt, allerdings in einem Verhältnis von 20 Prozent (Gehirn > Körper) zu 80 Prozent (Körper > Gehirn). Daher setzt die Resilienz-Trainerin vornehmlich auf körperorientiertes Arbeiten (Bottom-up), begleitet durch Reflexion und Psycho-Edukation (wir berichteten). In einer „Zeit ohne Zeit“ sei es besonders wichtig, so Meid, sich mindestens einmal täglich seinem inneren Kompass, dem eigenen Körper, zuzuwenden. Ein Werkzeugkasten an Techniken, um die Regulation des Nervensystems zu unterstützen und das Hamsterrad zu entschleunigen, könne dabei helfen. „Legen Sie zum Beispiel für ein paar Atemzüge die Hand auf Ihr Herz und spüren Sie in Ihren Brustkorb unter der Hand … fragen Sie sich: Wie geht es mir gerade? Was kann mir jetzt gerade tun? “, rät Isabelle Meid. Auch eine Reise durch den Körper (Body Scan) unterstütze die Verbindung zum Körper über den Vagus. Dieses Innehalten sei besonders hilfreich und wichtig in unserer verlorenen „Pausenkultur“ und „sympathischen“ Zeit. Nach diesem kurzen „Check in“ könne man eine der Regulationstechniken anschließen. Auch Atemtechniken, Bewegung an frischer Luft, kaltes Wasser, „Augen-Yoga“, Summen, Singen oder Grimassieren regen den Vagus-Nerv an. „So kommen wir wieder vom Kopf in den Körper und ins Hier und Jetzt.“ Woran man merkt, dass der beruhigende Impuls beim Körper ankommt? „Wenn der Magen während der Stimulation anfängt zu grummeln, man mehr Spuke im Mund verspürt oder die Augen anfangen zu tränen“, seien das untrügliche Zeichen, dass der Vagus-Nerv aktiviert wurde. „Die ‚Vagus-Übungen‘ sind kein Allheilmittel“, mahnt Meid. Wichtig sei es, sich auch den inneren Stressoren und Mustern zu widmen, um langfristig mehr Balance zu finden. „Auch bei der Behandlung von Depressionen, epileptischer Anfälle, Schlaflosigkeit, Reizdarm-Syndrom, Bluthochdruck, Verspannungen oder Darmbeschwerden kann sich die Arbeit mit dem Vagus-Nerv lohnen“, berichtet die Expertin. Wenn wir täglich eine kleine „ausbremsende“ Übung zur Routine, besser noch zum Ritual werden lassen, könne uns das in herausfordernden Zeiten Selbstwirksamkeit und Sicherheit zurückgeben, sagt Isabelle Meid. Daher gelte es, das Leben beherzt wieder in die eigenen Hände zu nehmen und öfter einmal den „Vagus-Knopf“ zu drücken!
Speziell für Lebenslinie-Leserinnen und -Leser stellt die Resilienz-Trainerin Isabelle Meid eine Online-Bibliothek mit Entspannungsübungen zur Verfügung. Hier kann man erste Versuche zur Vagus-Nerv-Stimulation unternehmen.