Der Verein „Medizinische Hilfe für Tschernobylkinder“ beendet seine Tätigkeit

Der am Uniklinikum Würzburg angesiedelte Verein „Medizinische Hilfe für Tschernobylkinder“ hat sich zum Mai 2024 aufgelöst. Ein Rückblick auf seine Entstehungsgeschichte und die in 28 Jahren bei der Behandlung von kindlichem Schilddrüsenkrebs erzielten Erfolge.

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Auf Initiative des Nuklearmediziners Prof. Dr. Christoph Reiners wurde im Mai 1996 am Uniklinikum Würzburg (UKW) der gemeinnützige Verein „Medizinische Hilfe für Tschernobylkinder“ gegründet. Dessen Ziel war es, in Folge der Nuklearkatastrophe von 1986 an Schilddrüsenkrebs erkrankten Kindern eine möglichst gute Therapie und Nachsorge zu bieten. Anfang Mai dieses Jahres löste sich der Verein auf. Als Begründung für diesen Schritt führt Reiners, Vereinsvorstandsvorsitzender und bis 2010 Direktor der Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin des UKW, an: „Zum einen konnte mit unserer Unterstützung in Belarus – früher als Weißrussland bezeichnet – eine adäquate lebenslange Nachsorge der mittlerweile erwachsenen Patientinnen und Patienten aufgebaut werden, so dass ausländische Hilfe nicht mehr zwingend erforderlich ist. Zum anderen haben wir in den letzten Jahren durch Tod oder politisch motivierte Auswanderung viele unserer jahrelangen Kooperationspartnerinnen und -partner in der belarussischen Hauptstadt Minsk verloren.“ Das Vereinsende ist Anlass, auf die Hintergründe, Maßnahmen und Ergebnisse des grenzüberschreitenden Hilfsangebots zurückzublicken.
Gehäuftes Auftreten von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen
Bei der Atomreaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl wurden große Mengen an radioaktivem Jod freigesetzt, die vorwiegend mit dem Wind nach Belarus verbracht wurden. Aufgenommen über die Atemwege und die Nahrung, reicherte es sich bei den Menschen in der Schilddrüse an. Bei Kindern ist das Organ deutlich strahlenempfindlicher als bei Erwachsenen. Deshalb kam es in den Folgejahren des Unglücks in Belarus zu einem gehäuften Auftreten von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen in den benachbarten Regionen des grenznahen Tschernobyl. Zwischen 1986 und 2000 erkrankten über 1.000 Kinder und Jugendliche an Schilddrüsenkarzinom. Neben dem Befall der Hormondrüse selbst besteht bei Kindern zudem ein erhöhtes Risiko für die Ausbildung von Fernmetastasen in der Lunge.
Bedingt durch den mittlerweile stattgefundenen radioaktiven Zerfall des bei dem Unglück 1986 ausgebrachten strahlenden Jods sind heutige Kinder vollkommen unbetroffen. „Nur die Menschen, die damals Kinder waren und deren Schilddrüsen das radioaktive Jod aufgenommen haben, leben mit einem – mit dem Alter abnehmenden – erhöhten Risiko, auch als Erwachsene noch an Schilddrüsenkrebs zu erkranken“, verdeutlicht Reiners.
Therapieweg und Nachsorgeaufwand
Zur optimalen Behandlung der Krebserkrankung muss die Schilddrüse komplett operativ entfernt werden. Häufig schließt sich eine Radiojodtherapie an, um eventuelle verbleibende Schilddrüsenzellen oder Metastasen zu zerstören. Einen besonderen Stellenwert hat nach den Worten von Prof. Reiners zudem die lebenslange hormonelle Nachsorge. Da die Schilddrüse Thyroxin produziert, müssen Patientinnen und Patienten, denen die Schilddrüse entfernt wurde, dieses Hormon dauerhaft in Tablettenform einnehmen. Um die richtige Dosis zu ermitteln und im Verlauf anzupassen, sind regelmäßige Blutuntersuchungen notwendig. „Die hormonellen Veränderungen der Pubertät erfordern eine besonders intensive Kontrolle und Nachjustierung“, unterstreicht der Nuklearmediziner.
Wie kam es zur Vereinsgründung?
Die Initialzündung für die Entwicklung eines deutschen Vereins war Zufall: 1992 begegnete Christoph Reiners – damals noch als Professor für Nuklearmedizin am Universitätsklinikum Essen – auf dem dortigen Krankenhausgelände einer belarussischen Mutter mit ihrem an Schilddrüsenkrebs erkrankten siebenjährigen Sohn. Da die Ärzte in der Heimat dem Jungen nur noch drei Monate zu leben gegeben hatten, suchte sie verzweifelt nach einem Experten für eine weitere Behandlung. „Dieser erste Patient war für mich der Beweis, dass es in Belarus nach Tschernobyl ein Problem mit Schilddrüsenkarzinom gab – eine Tatsache, die die medizinische Weltöffentlichkeit damals noch nicht ausreichend zu Kenntnis genommen hatte“, beschreibt Reiners. Ein paar Monate später reiste er mit einer internationalen Delegation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach Belarus und konnte sich vor Ort ein Bild machen. Es zeigte sich, dass im Land für die erkrankten Kinder keine ausreichenden Behandlungsmöglichkeiten bestanden. Um hier weiterzuhelfen, rief der engagierte Arzt schließlich den Verein „Medizinische Hilfe für Tschernobylkinder e.V.“ ins Leben.
Die Leistungen des Vereins
Bei weiteren, rund 20 Reisen nach Belarus und mit vielen Treffen mit internationalen Kolleginnen und Kollegen trug Prof. Reiners dazu bei, die nötigen Behandlungskonzepte zu entwickeln. Außerdem sammelte er zusammen mit Mitstreiterinnen und Mitstreitern mehrere Millionen Euro, die in Belarus in Behandlungseinrichtungen und gemeinsame Forschungsprojekte flossen.
Für eine optimale Therapie und Verlaufskontrolle war es allerdings anfänglich über mehrere Jahre hinweg erforderlich, Kinder mit besonders fortgeschrittenem Schilddrüsenkrebs ans UKW zu holen. 250 Kinder konnten dort bei insgesamt 1000 einwöchigen Aufenthalten erfolgreich behandelt werden. „Die für alle diese Kinder lebensrettenden Therapieergebnisse beruhen auf einer hervorragenden Teamleistung“, betont Prof. Reiners und präzisiert: „So konnten wir beispielsweise bei der Problematik der Lungenmetastasen auf die Sachkompetenz von Prof. Dr. Helge Hebestreit, dem Leiter des Schwerpunkts Pädiatrische Pneumologie am UKW, zugreifen. Ein weiterer Glücksgriff – gerade für die Kommunikation mit den Kindern, deren Angehörigen und den Institutionen in Belarus – war die Einstellung des tadschikischen, deutschstämmigen Arztes Dr. Johannes Biko an der Würzburger Universitäts-Klinik für Nuklearmedizin.“
Im Jahr 2011 zeichnete sich ab, dass mit großzügiger finanzieller Unterstützung der EU zwei neu eingerichtete Zentren in Minsk und der zweitgrößten belarussischen Stadt Gomel künftig in der Lage sein würden, die Radiojod-Behandlung nach dem Würzburger Konzept durchzuführen. Allerdings bestanden zu jenem Zeitpunkt im belarussischen Gesundheitssystem noch massive Defizite bei der hormonellen Nachsorge der mittlerweile erwachsenen „Tschernobylkinder“. Deshalb kaufte der Verein in jenem Jahr im Stadtzentrum von Minsk eine Wohnung, die zu einer kleinen Ambulanz mit Übernachtungsmöglichkeit umgebaut wurde. Vom Verein mit einfachen Medizingeräten und einem gebrauchten Laborautomaten für Hormonanalysen ausgestattet, konnten dort nun schwerpunktmäßig junge Frauen mit Kinderwunsch oder bereits Schwangere beraten und mit Arzneimittelspenden aus Deutschland versorgt werden. „Ein besonders schönes Feedback der vergangenen Jahre zu unserer Arbeit waren weit über 200 Geburtsanzeigen, Babyfotos und Mitteilungen über gesunde Nachkommen. Zugeschickt wurden sie von unseren ehemaligen Kinderpatientinnen und -patienten, jetzt selbst dankbare Eltern“, merkt Prof. Reiners an.
Ein großer Dank für die breite Unterstützung
 Anlässlich der Auflösung des Vereins dankt der Vorstandsvorsitzende neben den Vereinsmitgliedern und den an der Behandlung der Tschernobylkinder beteiligten UKW-Beschäftigten vor allem auch den zahlreichen Sponsoren. Mit ihren Spenden, viele in Verbindung mit Benefizaktionen des Vereins, machten sie nach seinen Worten die erfolgreiche Arbeit in den vergangenen 28 Jahren überhaupt erst möglich.
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