Das Opfer der Ökonomie: Vertrauen!

Dr. Giovanni Maio, Professor für Bioethik und Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, über den Eid des Hippokrates im Jahr 2019

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Foto: Professor Maio ©Silke Wernet

Lebenslinie (LL): Ist der Eid des Hippokrates heute noch aktuell?
Giovanni Maio (GM): „Aber natürlich. In dem Hippokratischen Eid wird das Primat des Wohls des Patienten fest verankert. Der Eid war eine Selbstverpflichtung der Ärzte, die eben darin bestand, das Erlernte nur zum Wohle des Patienten zu verwenden. Insofern ist der Eid hochaktuell, denn wenn Patienten behandelt werden, damit man mit ihnen den Umsatz steigert, dann verstößt das gegen den Eid. Die Hilfe für kranke Menschen, so können wir indirekt dem Eid entnehmen, ist der eigentliche Zweck ärztlichen Handelns, und dieser Zweck darf keinem anderen untergeordnet werden.“

LL: Inwiefern ist er nicht mehr aktuell?
GM: „Sicher gibt es Passagen, die veraltet sind, so der Hinweis auf das Verbot des Steinschnitts, aber auch solche Hinweise, wenn man sie von ihrer Grundbotschaft her versteht, haben Aktualität. Denn mit dem Rat, keinen Steinschnitt vorzunehmen, wollte man in der Antike auf die Grenzen des Machbaren verweisen und die Ärzte dazu erziehen, sehr sorgfältig zu prüfen, bevor sie intervenieren. Das hat an Aktualität nichts eingebüßt, im Gegenteil.“

LL: Und inwiefern verträgt er sich etwa mit dem ökonomischen Korsett der diagnosebezogenen Fallgruppen (DRGs)?
GM: „Dass Ärzte dazu angehalten werden, ständig auf die Erlössituation zu schielen, verstößt eindeutig gegen den ärztlichen Eid und gegen die legitime Erwartung der Patienten, die eben nicht dazu benutzt werden wollen, für die Sanierung einer Klinik herzuhalten, sondern die den Ärzten vertrauen wollen. Die Ärzte dürfen aber keine solchen Anreize haben, Erlöse zu optimieren, wenn man ihnen vertrauen soll. Das System ist ein falsches, weil es zu einer Vertrauenserosion führt, und der Eid genau dazu gedacht war, Vertrauen zu generieren. Im gegenwärtigen durchökonomisierten System ist neben der Zeit das Vertrauen das erste und gravierendste Opfer. Eine solche Politik ist nicht weitsichtig, weil sie die Grundfesten eines sozialen Bereichs erschüttert. Wenn die Medizin nur noch nach ökonomischen Kriterien durchorganisiert wird, dann hat sie ihre soziale Identität aufgegeben, und das wird kein vernünftiger Mensch haben wollen. Daher sind wir gesundheitspolitisch leider sehr schlecht regiert.“

LL: Ist es im momentanen Krankenhaussystem mit den ökonomischen Vorgaben über- haupt noch möglich, ärztliches Handeln allem voran zu stellen?
GM: „Ja, es ist durchaus möglich, aber nicht etwa wegen des Systems, sondern trotz des Systems. Heute müssen Ärzte renitent sein, wenn sie ihren Patienten helfen wollen. Das ist von Grund auf widersinnig.“

Das Interview mit Dr. Giovanni Maio, Professor für Bioethik und Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg führte Lebenslinie-Chefredakteurin Susanna Khoury.

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