Burnout der Pflegebranche

Stiftungsdirektor Walter Herberth und Stiftungsdirektorin Annette Noffz über Rahmenbedingungen, die sich in der „Pflege“ ändern müssen

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In der Oktoberausgabe 2020 der Lebenslinie haben wir mit Oberpflegamtsdirektor und Leiter der Stiftung Juliusspital Walter Herberth darüber gesprochen, was sich in der Sektion „Pflege“ ändern muss, damit auch in Zukunft kein Versorgungsmangel von alten, kranken und hilfebedürftigen Menschen in Deutschland droht. Nun möchten wir die Geschichte fortschreiben und eine weitere Gesprächspartnerin zu Wort kommen lassen, die zusammen mit Walter Herberth an vorderster Front bei der überlebensnotwendigen Mund-zu-Mund-Beatmung des „Pflegefalls Pflegebranche“, wie der Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse es tituliert, kämpft: Annette Noffz, Leitende Direktorin der Stiftung Bürgerspital zum Hl. Geist, hier zuständig für drei Seniorenheime, drei Seniorenwohnstifte, eine Tagespflege, einen ambulanten Dienst und das Würzburger Geriatriezentrum.

Rund 700 Seniorinnen und Senioren leben in den Einrichtungen der Stiftung Bürgerspital. Gerade in Zeiten der Pandemie eine immense Verantwortung. Im Frühjahr letzten Jahres war ein Bürgerspital-Haus als erstes von Corona betroffen. St. Nikolaus in Würzburg war die Blaupause für viele Seniorenstifte, die danach ebenfalls mit Covid-19-­
Ausbrüchen umgehen mussten.

Wettlauf mit der Zeit
„Als bei uns am 8. März 2020 der erste Fall eines mit Covid-19 infizierten Seniors bekannt wurde, war für uns klar, dass wir so schnell wie irgend möglich umfassend Tests bei allen Bewohnern und Mitarbeitern durchführen und natürlich mit guter Schutzausrüstung arbeiten müssen. Leider war beides zu diesem Zeitpunkt nicht oder zumindest nicht in ausreichender Menge vorhanden. Vor allem die fehlenden Testmöglichkeiten waren für uns schlimm, da wir so keinen Überblick über die Infizierten bekommen konnten. Und natürlich hat uns die Beschaffung von Schutzausrüstung und die Suche nach personeller Unterstützung immens beschäftigt“, erinnert sich Annette Noffz. Wenn die angelaufenen Impfungen den Mutationen des Virus standhalten, könnten diese vor allem für die vulnerablen Gruppen in der Gesellschaft ein Gamechanger sein. Es sei ein Wettlauf mit der Zeit und die Tatsache, dass es derzeit (Mitte Januar 2021) Lieferschwierigkeiten beim Nachschub des Impfstoffs gibt, verschaffe eher dem Virus und so der Ausbreitungen immer neuer Mutationen einen Vorteil. Mit Walter Herberth, dem Leiter der Stiftung Juliusspital haben wir viel über „Ökonomie und Fürsorge“ gesprochen und über die Tatsache, dass der Zeiger lange schon in die falsche Richtung ausschlägt, nämlich in Richtung Ökonomie. Menschen als Fallpauschale, ausufernde Dokumentationspflichten und Zeit für Menschen, die so knapp bemessen wird, dass es kaum den Körpern, weniger noch den Seelen der betagten Senioren reicht. Seit 15. September 2020 gehen, aus diesen Gründen und noch einigen mehr, mittlerweile 25 Organisationen, denen über 30.000 Mitarbeitende angehören, bei den „Dienst-Tag-für-Menschen“-Demonstrationen auf die Straße, um auf die schlechten Arbeitsbedingungen ihrer Branche aufmerksam zu machen.

Rahmenbedingen ändern
„Für die tägliche Arbeit der Pflege hat sich dadurch zwar noch nichts zum Besseren gewendet, zumal auch der Markt an Pflegekräften leer gefegt ist,“ so Herberth. Was sich aber verändert habe, sei der Grad der Aufmerksamkeit: „Was vor der Krise noch als selbstverständlich hingenommen wurde – nach dem Motto: das ist so, die ̦Pflege‘ muss einfach funktionieren – wird jetzt von immer mehr Fachleuten und Politikern laut ausgesprochen, dass sich etwas ändern muss, wenn wir auch in Zukunft eine gute Pflege gewährleisten wollen“, so der Oberpflegamtsdirektor. Perspektivisch, so Noffz, die leitende Direktorin des Bürgerspitals, würden nur umfassende Änderungen helfen.

„Wir haben viel zu wenig junge Menschen, die in diesen Berufen eine Ausbildung anstreben und leider sind es zu viele, die nach wenigen Jahren in den Berufen aufgeben, weil sie nicht mehr können oder wegen der Rahmenbedingungen nicht mehr wollen“, resümiert Noffz.

Abbruch oder Aufbruch?
Um wieder mehr junge Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen, muss sich noch vieles ändern. „Wir bieten schon heute eine gute Ausbildung an und dürfen hier nicht nachlassen. Die in 2020 gestartete generalistische Ausbildung, also die in den ersten zwei Jahren einheitliche Ausbildung für die Bereiche Kranken- und Kinderkrankenpflege, Altenpflege und ambulante Pflege, wird den Auszubildenden alle Seiten des Pflegeberufs offenbaren und die Möglichkeit eröffnen, sich dann auf einen der Bereiche zu konzentrieren, der den Neigungen am meisten entspricht“, erklärt Walter Herberth die Vorteile. Und wirft aber auch selbstkritisch ein, dass auch die Pflege aufhören müsse, stetig über negative Begleiterscheinungen des Berufes zu jammern, sondern mehr die guten und schönen Seiten dieses Berufes herauszustellen müssen: etwa die Dankbarkeit der Angehörigen, wenn ein Pflegeplatz verfügbar sei, oder das aufrichtige „Dankeschön“ eines Bewohners für liebevolle Betreuung. Durch das allgemeine Lamento, das zwar nicht unberechtigt sei, würden Kollateralschäden verursacht. Wenn man zum Beispiel interessierte junge Menschen abschreckt, den Beruf zu erlernen, indem man sie gleich zu Anfang überfordert, wie der Stiftungsdirektor mitten in der Krise selbst mitbekommen hat: „Einen Praktikanten, der in den Beruf des Altenpflegers reinschnuppern wollte, bekam die ̦volle Breitseite‘ ab, und wurde gleich fest in den Tagesbetrieb eingebunden, weil das Stammpersonal immer knapper wurde und die aktuelle Situation die Einbindung des Praktikanten erforderte.“ Auch wenn die Situation manchmal alternativlos erscheine: Das trage nicht zur Werbung für einen der “schönsten Berufe der Welt“ bei, wie es Britta S., eine Altenpflegerin mit über 35 Jahren Berufserfahrung, in einer Stellenbeschreibung formuliert.


„Durch unser Bündnis ‚Dienst-Tag-für-Menschen’ konnten wir unsere Anliegen bereits an überregionalen Politikerinnen und Politikern, dem Kommunalen Arbeitgeberverband sowie Stiftungen und gemeinnützigen Trägern von Einrichtungen transportieren“, berichtet Annette Noffz. Und Walter Herberth ergänzt: „Mit unserer Aktion, jeden Dienstag von 17 bis 17.30 Uhr eine stille Demonstration auf der Juliuspromenade, wollen wir auf unsere Anliegen so lange aufmerksam machen, bis sich mindestens ernste Dinge geändert haben!” Foto: Thomas Kandert

Der Wert der Pflege
Corona war das Brennglas für Missstände, die schon lange für alle sichtbar waren. Wie etwa der Umstand, dass Pflegekräfte bei den Fallpauschalen nicht hinreichend mitgerechnet wurden, oder die Tatsache, dass es wegen permanentem, akutem Personalmangel für Pflegekräfte oft kein verlässliches “Frei” und auch keinen echten Urlaub gibt. Die Pandemie hat diese Situation verschlimmert. Wie kann man nun verhindern, dass motivierte, erfahrene Pflegekräfte nach Corona aufgeben und so die Situation noch mal schlimmer statt besser wird? Der Leiter der Stiftung Juliusspital vertritt da eine eindeutige Position: „Wir müssen uns als Gesellschaft ganz ehrlich die Frage stellen, was uns Medizin und Pflege wert sind? Was sind wir bereit, für gute Betreuung in Krankheit und Pflegesituation selbst aufzubringen?

Hier stellt sich schnell die Frage, warum in den psychisch und physisch anstrengenden Pflegeberufen nicht dasselbe gelten soll, was in der Metallbranche seit 25 Jahren fest verankert ist: die 35-Stunden-Woche?“ Und auch die Leitende Direktorin der Stiftung Bürgerspital hat konkrete Vorschläge, damit sich die Situation entspannt: „Wir müssen dafür sorgen, dass genügend Entspannungs- und Erholungszeiten eingeplant werden. Andernfalls dreht sich die Spirale wie schon seit vielen Jahren weiter nach unten: Krankheitszeiten werden länger, Kollegen müssen weitere Schichten übernehmen, es gibt keine Verlässlichkeit mehr bei geplanten freien Tagen und damit steigt die Gefahr des ̦Ausbrennens.‘
Dass eine 35-Stunden-Woche nicht sofort umsetzbar sein wird, sei allen bewusst, aber ein mittelfristiges Ziel müsse diese Forderung schon sein, um zu anderen Berufen vergleichbar attraktive Arbeitsbedingungen zu schaffen. Auch Anspruch auf ein Sabbatjahr, auf Altersteilzeit und Lebensarbeitszeitkonten könnten dazu beitragen, so Noffz, dass sich wieder mehr junge Leute für die Pflege begeisterten. Aber all diese Dinge könnten die Träger bisher nicht umsetzen, da es dafür keine Refinanzierung gebe. Daneben würde zu einer Entlastung der Pflegekräfte beitragen, wenn Digitalisierung auch in diesem Segment vorangetrieben würde und überbordende Dokumentationspflichten wegfielen, moniert Herberth.

Ökonomie nicht der Maßstab
Das Leben ist kein Wunschkonzert, aber manchmal spielt es doch dein Lieblingslied – vielleicht im Wahljahr 2021? Und so wollten wir von beiden Stiftungsleitern wissen, welcher Sound vorherrschen soll in ihren Einrichtungen, in der nahen Zukunft? Noffz: „Mein Wunsch ist, dass wieder viele junge Menschen eine Ausbildung in der Pflege anstreben; dass wir bessere Personalschlüssel und insgesamt bessere Rahmenbedingungen haben, sodass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unseren Bewohnerinnen und Bewohnern wieder mehr Zeit zur Verfügung stellen können. Unsere wirklich gut ausgebildeten Fachkräfte in der Kranken- und der Altenpflege sollen den Respekt und die Achtung erhalten, die sie für ihre Arbeit verdienen.“ Herberth: „Dem schließe ich mich mit der Ergänzung an, dass wir hierfür ein Umdenken brauchen: Primat der helfenden Berufe, und hier will ich die in der Medizin und Therapie Tätigen miteinschließen, darf nicht mehr die Ökonomie sein. An erster Stelle muss wieder der betroffene Mensch stehen. Die Ökonomie soll sich hingegen wieder auf eine dienende Funktion beschränken.”

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